Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
derjenige, der gewollt hatte, dass Sheemie ihm die Stiefel sauber leckte, oder der alte weißhaarige Jonas mit seiner zitternden Stimme.
So schlimm wie sie, vielleicht sogar noch schlimmer.
8
Roland schob das Päckchen mit den »Samenkörnern« in sein Hemd und machte es erst auf, als sie alle drei wieder auf der Veranda der Bar K waren. In der Ferne grollte die Schwachstelle, sodass ihre Pferde nervös mit den Ohren zuckten.
»Und?«, fragte Cuthbert schließlich, als er sich nicht länger zurückhalten konnte.
Roland nahm den Umschlag aus dem Hemd und riss ihn auf. Dabei überlegte er, dass Susan genau gewusst hatte, was sie sagen musste. Bis aufs Haar genau.
Die anderen beugten sich über ihn, Alain von links, Cuthbert von rechts, während er das Stück Papier auseinander faltete. Wieder sah er ihre schlichte, fein säuberliche Handschrift, aber die Nachricht war nicht viel länger als die vorherige. Allerdings völlig anderen Inhalts:
Auf der Stadtseite von Citgo liegt ein Orangenhain, etwa eine Meile abseits der Straße. Du triffst mich dort bei Mondaufgang. Komm allein.
Und darunter stand in eindringlicher Druckschrift: VERBRENNE DIES.
»Wir müssen eine Wache aufstellen«, sagte Alain.
Roland nickte. »Aye. Aber in gebührendem Abstand.«
Dann verbrannte er die Nachricht.
9
Der Orangenhain war ein sorgfältig gehegtes Rechteck mit etwa einem Dutzend Baumreihen am Ende eines teilweise zugewachsenen Feldwegs. Roland traf nach Einbruch der Dunkelheit dort ein, aber noch eine gute halbe Stunde, bevor der zusehends dünner werdende Hausierer sich noch einmal über den Horizont erheben würde.
Als der Junge durch eine der Reihen schlenderte und den irgendwie skeletthaften Geräuschen des Ölfelds im Norden lauschte (quietschende Kolben, knirschende Zahnräder, hämmernde Bohrschächte), überkam ihn ein tiefes Heimweh. Es lag am zarten Duft der Orangenblüten – eine helle Tünche auf dem dunkleren Geruch des Öls –, der es wohl auslöste. Dieser Spielzeughain hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit den riesigen Obstgärten von Neu-Kanaan… aber irgendwie doch. Hier herrschte dasselbe Gefühl von Würde und Zivilisation vor, von viel Zeit, die für etwas aufgewendet wurde, das eigentlich nicht zwingend erforderlich war. Und in diesem Fall, vermutete er, auch nicht besonders nützlich. Orangen, die so weit nördlich der warmen Breiten gezüchtet wurden, schmeckten wahrscheinlich fast so sauer wie Zitronen. Doch wenn die Brise in den Bäumen raschelte, erfüllte ihn das mit einer bitteren Sehnsucht nach Gilead, und er dachte zum ersten Mal an die Möglichkeit, dass er seine Heimat nie mehr wiedersehen würde – dass er längst so sehr ein Wanderer geworden war wie der alte Hausierermond am Himmel.
Er hörte sie, aber erst, als sie schon fast bei ihm war – wäre sie Feind statt Freund gewesen, hätte er vielleicht immer noch Zeit gehabt, zu ziehen und zu feuern, aber es wäre knapp geworden. Bewunderung erfüllte ihn, und als er ihr Gesicht im Licht der Sterne sah, hüpfte sein Herz vor Freude.
Sie blieb stehen, als er sich umdrehte, und sah ihn nur an, während sie die Hände in einer Weise vor der Taille verschränkte, die auf reizende und unbewusste Weise kindlich wirkte. Er ging einen Schritt auf sie zu, da hob sie die Hände zu einer anscheinend erschrockenen Geste. Er blieb verwirrt stehen. Aber er hatte ihre Geste in dem spärlichen Licht falsch ausgelegt. Sie hätte stehen bleiben können, entschied sich aber dagegen. Sie trat ihm bewusst entgegen, eine große, junge Frau im Hosenrock und mit schlichten schwarzen Stiefeln. Ihre sombrera hing auf ihrem Rücken über dem geflochtenen Zopf ihres Haares.
»Will Dearborn, unsere Begegnung steht unter einem günstigen und einem ungünstigen Stern«, sagte sie mit bebender Stimme, und dann küsste er sie; sie drückten sich brennend aneinander, während sich der Hausierer in der ausgehungerten Gestalt seines letzten Viertels in den Himmel erhob.
10
In ihrer einsamen Hütte hoch droben auf dem Cöos saß Rhea an ihrem Küchentisch über die Glaskugel gebeugt, die ihr die Großen Sargjäger vor anderthalb Monaten gebracht hatten. Ihr Gesicht war in das rosa Leuchten getaucht, aber niemand hätte es mehr für das Gesicht eines jungen Mädchens halten können. Sie besaß eine außerordentliche Vitalität, die sie viele Jahre aufrecht gehalten hatte (nur die Bewohner Hambrys, die schon am längsten
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