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Der dunkle Wächter

Der dunkle Wächter

Titel: Der dunkle Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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einiger Zeit an der Lektüre des Tagebuchs gescheitert war.
    »Überhaupt nicht«, widersprach Irene. »Es ist nur so, dass man eine Frau sein muss, um es zu verstehen.«
    Angesichts dieser Behauptung wollten Ismaels Lippen eine Erwiderung formen, doch aus irgendeinem Grund behielt er seine Gedanken für sich.
    Bald hatte sie der Wind von achtern zur Einfahrt der Lagune gebracht. Ein schmaler Durchlass zwischen den Felsen führte in einen natürlichen Hafen. Das Wasser in der Lagune, kaum drei bis vier Meter tief, bildete einen durchsichtigen, smaragdgrünen Garten, und der sandige Grund wellte sich unter ihren Füßen wie ein zarter weißer Schleier. Irene lauschte staunend der Verzauberung nach, in die sie der sanfte Bogen der Lagune versetzte. Ein Fischschwarm tanzte unter dem Rumpf der
Kyaneos
wie silbrig glitzernde Pfeile.
    »Das ist unglaublich«, stammelte Irene.
    »Das ist die Lagune«, erklärte Ismael prosaisch.
    Dann holte er die Segel ein und warf den Anker, während das Mädchen noch unter dem ersten Eindruck dieser Umgebung stand. Die
Kyaneos
schaukelte sanft hin und her wie ein Blatt auf einem stillen See.
    »Also, willst du die Grotte nun sehen oder nicht?«
    Irenes einzige Antwort bestand in einem herausfordernden Lächeln, und ohne den Blick von ihm abzuwenden, zog sie langsam ihr Kleid aus. Ismael bekam Augen so groß wie Untertassen. Nicht einmal in seinen wildesten Phantasien hatte er mit einem solchen Auftritt gerechnet. Irene, die nun einen eng anliegenden Badeanzug trug, der so knapp war, dass er in den Augen ihrer Mutter diesen Namen niemals verdient hätte, grinste, als sie Ismaels Gesichtsausdruck sah. Nachdem sie ihn einige Sekunden mit ihrem Anblick becirct hatte, gerade lang genug, dass er sich nicht daran gewöhnen konnte, sprang sie ins Wasser und tauchte unter die sanft wogende, schimmernde Oberfläche. Ismael schluckte. Entweder er war eine lahme Schnecke oder dieses Mädchen war zu schnell für ihn. Ohne lange zu überlegen, sprang er hinter ihr ins Wasser. Er brauchte eine Abkühlung.
    Ismael und Irene schwammen zum Eingang der Fledermausgrotte. Der Tunnel verschwand im Fels wie eine in Stein gehauene Kathedrale. Eine schwache Strömung kam aus dem Inneren und strich unter Wasser über ihre Haut. Das Innere der Meeresgrotte erweiterte sich zu einer Kuppel mit Hunderten langer Felsnadeln, die in die Tiefe hingen wie versteinerte Tränen aus Eis. Glitzerndes Wasser fing sich in zahllosen Nischen zwischen den Felsen, und von dem sandigen Boden ging ein geisterhaftes, phosphoreszierendes Leuchten aus, das einen Teppich aus Licht im Inneren der Grotte ausbreitete.
    Irene tauchte und öffnete unter Wasser die Augen. Eine Welt aus tanzenden Lichtreflexen schwebte vor ihr, bevölkert von seltsamen, faszinierenden Kreaturen. Kleine Fische, deren Schuppen je nach Lichteinfall die Farbe wechselten. Bunt schillernde Pflanzen auf den Felsen. Winzige Krebse, die über den sandigen Meeresboden krabbelten. Das Mädchen betrachtete das Leben in der Grotte, bis ihr die Luft ausging.
    »Wenn du so weitermachst, wächst dir noch ein Fischschwanz wie den Meerjungfrauen«, sagte Ismael.
    Sie zwinkerte ihm zu und küsste ihn im gedämpften Licht der Grotte.
    »Ich bin eine Meerjungfrau«, flüsterte sie, während sie tiefer in die Fledermausgrotte hineinschwamm.
    Ismael wechselte einen Blick mit einem gleichmütigen Krebs, der ihn von der Felswand aus musterte und ein menschenkundliches Interesse an der Szene zu haben schien. Der wissende Blick des Schalentieres ließ keinen Zweifel. Man machte sich wieder über ihn lustig.
     
    Ein ganzer Fehltag, dachte Simone. Hannah war seit Stunden verschwunden, ohne Bescheid zu geben. Simone fragte sich, ob sie es mit einem rein disziplinarischen Problem zu tun hatte. Hoffentlich war es so. Sie hatte den ganzen Sonntag damit verbracht, auf Nachrichten von dem Mädchen zu warten. Wahrscheinlich hatte es nach Hause gemusst, dachte sie. Eine kleine Unpässlichkeit. Eine unvorhergesehene Verpflichtung. Sie hätte sich mit jeder Erklärung zufriedengegeben. Nach stundenlangem Warten beschloss sie, etwas zu unternehmen. Sie wollte gerade zum Hörer greifen, um bei Hannah zu Hause anzurufen, als ihr ein eingehender Anruf zuvorkam. Die Stimme am anderen Ende kam ihr unbekannt vor, und die Art und Weise, wie sich ihr Besitzer vorstellte, trug nicht eben dazu bei, sie zu beruhigen.
    »Guten Tag, Madame Sauvelle. Mein Name ist Henri Faure. Ich bin der Chefinspektor der

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