Der dunkle Wächter
aufbewahrte.
Er leckte sich über die Lippen wie eine Katze und machte sich über das erste Praliné her. Die köstliche Geschmacksexplosion von Trüffel, Mandel und Kakao trübte ihm die Sinne. Was ihn betraf, war Schokolade nach der Kartographie die wohl großartigste Erfindung der Menschheit. Insbesondere Pralinen. »Ein erfinderisches Volk, die Schweizer«, dachte Dorian. »Uhren und Schokolade, die Essenz des Lebens.« Ein plötzliches Geräusch riss ihn auf einen Schlag aus seinen angenehmen Überlegungen. Wie erstarrt hörte Dorian erneut das Geräusch, und die zweite Praline glitt ihm aus den Fingern. Jemand klopfte an der Tür.
Der Junge versuchte zu schlucken, aber sein Mund war ganz trocken. Erneut waren zwei präzise Schläge gegen die Haustür zu vernehmen. Dorian ging ins Wohnzimmer, ohne den Blick vom Eingang abzuwenden. Nebel kroch unter der Türschwelle hindurch. Wieder wurde zweimal an die Tür geklopft. Dorian blieb davor stehen und zögerte kurz.
»Wer ist da?«, fragte er mit gebrochener Stimme.
Erneutes zweimaliges Klopfen war die einzige Antwort, die er erhielt. Der Junge trat ans Fenster, doch durch die Nebeldecke war nichts zu sehen. Es waren auch keine Schritte auf der Veranda zu hören. Der Unbekannte war gegangen. Vielleicht ein Wanderer, der sich verlaufen hatte, dachte Dorian. Er wollte gerade in die Küche zurückgehen, als das zweimalige Klopfen erneut zu vernehmen war, diesmal jedoch an der Fensterscheibe, kaum zehn Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Ihm blieb fast das Herz stehen. Dorian wich langsam in die Mitte des Wohnzimmers zurück, bis er rückwärts gegen einen Sessel stieß. Instinktiv packte der Junge einen Kerzenleuchter aus Metall und hielt ihn vor sich.
»Geh weg…«, flüsterte er.
Für Sekundenbruchteile schien sich in dem Nebel auf der anderen Seite der Fensterscheibe ein Gesicht zu formen. Dann plötzlich stieß ein heftiger Windstoß das Fenster auf. Eisige Kälte drang Dorian durch Mark und Bein, und entsetzt beobachtete er, wie sich ein schwarzer Fleck auf dem Boden ausbreitete.
Ein Schatten.
Die Masse kroch auf ihn zu und nahm allmählich Gestalt an, richtete sich vom Boden auf wie eine Marionette aus Finsternis, die von unsichtbaren Fäden gehalten wurde. Der Junge versuchte mit dem Kerzenleuchter nach dem Eindringling zu schlagen, doch das Metall ging einfach durch den dunklen Schemen hindurch. Dorian trat einen Schritt zurück, und der Schatten legte sich über ihn. Zwei Hände aus schwarzem Nebel umfassten seinen Hals; er spürte die eisige Berührung auf seiner Haut. Die Umrisse eines Gesichts zeichneten sich vor ihm ab. Ein Schauder durchlief seinen ganzen Körper. Eine knappe Handbreit vor seinem Gesicht erschien das Antlitz seines Vaters. Armand Sauvelle lächelte ihm zu. Ein Wolfsgrinsen, grausam und voller Hass.
»Hallo Dorian. Ich bin gekommen, um Mama zu holen. Bringst du mich zu ihr, Dorian?«, raunte der Schatten.
Der Klang dieser Stimme ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Das war nicht die Stimme seines Vaters. Diese dämonisch glühenden Lichtpunkte waren nicht seine Augen. Und auch diese langen, spitzen Zähne, die zwischen den Lippen hervorbleckten, gehörten nicht Armand Sauvelle.
»Du bist nicht mein Vater…«
Das Wolfsgrinsen des Schattens erlosch, und das Gesicht zerfloss wie Wachs in der Flamme.
Ein hasserfülltes tierisches Brüllen gellte ihm in den Ohren, und eine unsichtbare Kraft schleuderte ihn ans andere Ende des Zimmers. Dorian krachte gegen einen der Sessel, der dabei umfiel.
Benommen rappelte sich der Junge wieder auf, um gerade noch zu sehen, wie der Schatten die Treppe hinaufkroch, eine zum Leben erwachte Teerpfütze, die nun die Stufen erklomm.
»Mama!«, schrie Dorian und stürzte zur Treppe.
Der Schatten blieb stehen und starrte ihn an. Seine Obsidianlippen formten unhörbar ein Wort. Seinen Namen.
Da zerbarsten die Fensterscheiben im ganzen Haus in einem Schauer tödlicher Scherben, und der Nebel strömte heulend in das Haus am Kap, während der Schatten weiter in den ersten Stock hinaufglitt. Dorian stürzte hinter diesem gespenstischen Gebilde her, das über den Boden auf Simones Schlafzimmertür zukroch.
»Nein!«, brüllte der Junge. »Fass meine Mutter nicht an!«
Der Schatten grinste, und im nächsten Moment wurde die schwarze Masse zu einem Strudel, der im Türschloss des Schlafzimmers verschwand. Danach folgte eine Sekunde tödlicher Stille.
Dorian rannte auf die Tür zu, doch noch
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