Der dunkle Wächter
versprach eine sehr lange Nacht zu werden.
Um Mitternacht hatte sich ein Nebelschleier über die Klippen gelegt, der nun Stufe für Stufe vom Anleger zum Haus am Kap hinaufkroch. Auf der Veranda baumelte noch die Öllampe, deren Licht nur noch müde flackerte. Abgesehen vom Rauschen des Meeres und dem Rascheln der Blätter im Wald herrschte absolute Stille. Dorian lag im Bett, in der Hand ein kleines Glas mit einer brennenden Kerze darin. Er wollte nicht, dass seine Mutter das Licht sah, und außerdem hatte er nach dem Vorgefallenen kein Vertrauen mehr in seine Nachttischlampe. Die Flamme flackerte launisch in seinem Atem wie eine tanzende Feuerelfe. Lichtreflexe ließen in jeder Ecke unerwartete Formen erstehen. Dorian seufzte. In dieser Nacht würde er für kein Geld der Welt ein Auge zutun können.
Kurz nachdem Lazarus sich verabschiedet hatte, hatte Simone einen Blick in sein Zimmer geworfen, um sich zu vergewissern, dass es ihm gut ging. Dorian hatte sich, vollständig angezogen, unter die Bettdecke gekauert und eine seiner Glanzvorstellungen vom süßen Schlaf der Gerechten gegeben. Daraufhin war seine Mutter zufrieden in ihrem Schlafzimmer verschwunden, um seinem Beispiel zu folgen. Seitdem waren Stunden vergangen, wenn nicht gar Jahre, wie es dem Jungen vorkam. Die nicht enden wollende Nacht hatte ihm Gelegenheit gegeben, sich darüber klar zu werden, dass seine Nerven gespannt waren wie die Saiten eines Klaviers. Bei jedem Lichtschein, jedem Knarren, jedem Schatten begann sein Herz wie wild zu rasen.
Langsam wurde das Licht der Kerze schwächer, bis nur noch ein blaues Flämmchen übrigblieb, dessen fahler Schein kaum noch die Dunkelheit durchdrang. Augenblicklich legte sich wieder Finsternis über den Raum, aus dem sie nur widerstrebend gewichen war. Dorian konnte spüren, wie das heiße Wachs hinuntertropfte und in dem Glas erkaltete. Vom Nachttisch aus beobachtete ihn schweigend der Bleiengel, den Lazarus ihm geschenkt hatte. »Ist ja schon gut«, dachte Dorian und beschloss, zu seinem bevorzugten Mittel gegen Schlaflosigkeit und Alpträume zu greifen: etwas zu essen.
Er schlug die Bettdecke zurück und stand auf. Er hatte entschieden, auf Schuhe zu verzichten, um das Knarren, Knarzen und Knacken zu vermeiden, das seine Füße förmlich anzuziehen schienen, wann immer er vorhatte, lautlos durch das Haus am Kap zu schleichen, und nun nahm er seinen ganzen Mut zusammen und tappte auf Zehenspitzen quer durchs Zimmer zur Tür. Die Klinke herunterzudrücken, ohne dass das übliche Mitternachtskonzert rostiger Türangeln einsetzte, kostete ihn zehn lange Sekunden, aber es war die Mühe wert. In Zeitlupe öffnete er die Tür und prüfte, ob die Luft rein war. Der Flur lag im Dunkeln, und die Treppe zeichnete sich als Schatten an der Wand ab. Kein Staubkörnchen regte sich in der Luft. Dorian zog die Tür hinter sich zu und schlich vorsichtig bis zum Treppenabsatz, an Irenes Zimmer vorbei.
Seine Schwester war vor Stunden unter dem Vorwand, sie habe rasende Kopfschmerzen, schlafen gegangen, obwohl Dorian vermutete, dass sie noch las oder alberne Liebesbriefe an diesen Fischer schrieb, mit dem sie neuerdings mehr Stunden verbrachte, als ein Tag lang war. Seit er sie in Simones Kleid gesehen hatte, wusste er, dass von ihr nur noch eines zu erwarten war: Probleme. Während er wie ein Indianer auf der Pirsch die Treppe hinunterschlich, schwor sich Dorian, dass er mehr Haltung an den Tag legen würde, sollte er eines Tages die Dummheit begehen, sich zu verlieben. Frauen wie Greta Garbo machten sich nichts aus solchem Blödsinn wie Liebesbriefchen und Blumen. Er mochte ein Feigling sein; aber ein Lackaffe, niemals.
Im Erdgeschoss angelangt, stellte Dorian fest, dass eine Nebelbank das Haus umgab und die Schwaden den Blick aus allen Fenstern verwehrten. Das Lächeln, mit dem er sich auf Kosten seiner Schwester lustig gemacht hatte, verflog. »Kondensiertes Wasser«, sagte er sich. »Es ist nur kondensiertes Wasser, das sich niederschlägt. Elementare Chemie.« Nach dieser beruhigenden wissenschaftlichen Erklärung achtete er nicht weiter auf den Nebel, der durch die Fensterritzen kroch und in die Küche waberte. Dort stellte er fest, dass die Romanze zwischen Irene und ihrem Schwarzen Korsar auch ihre positiven Seiten hatte: Seit sie sich mit ihm traf, hatte seine Schwester die Schachtel mit der köstlichen Schweizer Schokolade nicht mehr angerührt, die Simone in der zweiten Schublade des Vorratsschranks
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