Der dunkle Wächter
bevor er sie erreichen konnte, wurde sie mit der Stärke eines Hurrikans aus den Angeln gehoben und zerschellte mit Wucht am Ende des Flurs. Dorian warf sich zur Seite und konnte um Haaresbreite ausweichen.
Als er sich wieder aufrichtete, bot sich seinen Augen ein alptraumhafter Anblick. Der Schatten wanderte über die Wände von Simones Zimmer. Die Umrisse seiner Mutter, die schlafend auf dem Bett lag, zeichneten sich gleichfalls als Schatten an der Wand ab. Dorian beobachtete, wie der dunkle Schemen die Wände entlangglitt und die Lippen dieser Erscheinung diejenigen des Schattens seiner Mutter berührten. Simone wälzte sich im Schlaf hin und her, auf geheimnisvolle Weise in einem Alptraum gefangen. Zwei unsichtbare Hände packten sie und hoben sie vom Laken hoch. Dorian stellte sich ihnen in den Weg. Wieder wurde er mit unbezähmbarer Wut weggestoßen und aus dem Zimmer geschleudert. Mit Simone in den Armen verschwand der Schatten rasch die Treppe hinunter. Dorian kämpfte darum, nicht das Bewusstsein zu verlieren, rappelte sich wieder auf und verfolgte ihn ins Erdgeschoss. Die Erscheinung wandte sich um, und für einen Moment starrten sich beide an.
»Ich weiß, wer du bist«, murmelte der Junge.
Ein neues, ihm unbekanntes Gesicht wurde sichtbar: Das Antlitz eines jungen, gutaussehenden Mannes mit leuchtenden Augen.
»Gar nichts weißt du«, sagte der Schatten.
Dorian beobachtete, wie die Augen der Erscheinung durch den Raum schweiften und an der Kellertür haften blieben. Die alte Holztür öffnete sich plötzlich, und der Junge spürte, wie er von einer unsichtbaren Macht dorthin geschoben wurde, ohne dass er etwas tun konnte, um es zu verhindern. Er stürzte die Treppe hinunter, der Finsternis entgegen. Die Tür schloss sich wieder, wie eine unverrückbare Grabplatte.
Dorian wusste, dass er in den nächsten Sekunden bewusstlos werden würde. Er hörte den Schatten lachen wie einen Schakal, während er seine Mutter durch den Nebel zum Wald schleppte.
Je höher die Flut in der Höhle stieg, desto deutlicher spürten Irene und Ismael, wie sich die tödliche Schlinge immer enger um sie zog, eine erstickende, tödliche Falle. Irene hatte schon den Moment vergessen, als das Wasser ihnen ihre vorläufige Zuflucht auf dem Felsen genommen hatte. Ihre Füße fanden keinen Halt mehr. Sie waren nun auf die Gezeiten und ihr eigenes Durchhaltevermögen angewiesen. Die Kälte verursachte starke Schmerzen in den Muskeln, ein Schmerz wie von tausend Nadeln, die sich in ihr Innerstes bohrten. Sie begann das Gefühl in den Händen zu verlieren, und die Erschöpfung griff mit bleiernen Krallen nach ihr, die sie an den Knöcheln zu packen und nach unten zu ziehen schienen. Eine innere Stimme flüsterte ihr zu, aufzugeben und sich dem friedlichen Schlaf zu überlassen, der sie unter Wasser erwartete. Ismael hielt das Mädchen an der Wasseroberfläche und merkte, wie ihr Körper in seinen Armen zitterte. Wie lange er so durchhalten würde, hätte er nicht sagen können. Und noch weniger, wie lange es noch dauerte, bis der Morgen kam und sich die Flut zurückzog.
»Nicht die Arme hängen lassen. Beweg dich. Hör nicht auf, dich zu bewegen«, keuchte er.
Irene nickte, am Rand der Bewusstlosigkeit.
»Ich bin müde…«, murmelte sie beinahe im Delirium.
»Nein. Du darfst jetzt nicht einschlafen«, befahl ihr Ismael.
Irene blickte ihn aus halb geöffneten Augen an, ohne ihn wirklich zu sehen. Er streckte den Arm aus und tastete an der felsigen Decke entlang, bis zu der sie die Flut emporgetragen hatte. Die Binnenströmung trieb sie von der Öffnung in der Kuppel weg, immer tiefer in die Höhle hinein, und verwehrte ihnen so den einzig möglichen Fluchtweg. Sosehr er sich auch anstrengte, sich unter der Öffnung zu halten, es gab keine Möglichkeit, sich festzuklammern und so zu verhindern, dass die Strömung sie mit unaufhaltsamer Kraft davontrieb. Sie hatten kaum noch Raum zum Atmen. Und die Flut stieg erbarmungslos weiter.
Irenes Gesicht sank auf das Wasser. Ismael packte sie und zog sie an sich. Das Mädchen war völlig benommen. Er wusste von stärkeren und erfahreneren Männern, die so den Tod gefunden hatten, draußen auf dem Meer. Gegen die Kälte war man machtlos. Dieser tödliche Mantel lähmte die Muskeln und vernebelte den Verstand, während er geduldig abwartete, dass sich das Opfer seinem Ende ergab.
Ismael schüttelte das Mädchen und drehte es zu sich um. Sie stammelte sinnentleert vor sich hin. Ohne
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