Der dunkle Wächter
einher. Wenn der Körper versehrt ist, kommt nach kurzer Zeit auch der Geist vom Weg ab. So ist das Leben.
So wuchs ich also auf, und die Einsamkeit war mein einziger Begleiter, während ich davon träumte, dass eines Tages Daniel Hoffmann auftauchen werde, um mir zu helfen. Ich erinnere mich, dass ich jeden Abend vor dem Einschlafen zu meinem Schutzengel betete, er möge mich zu ihm führen. Jeden Abend. Und so kam es, dass ich, wahrscheinlich geleitet von meinen Hoffmann-Phantasien, mein eigenes Spielzeug herzustellen begann.
Dazu verwendete ich Schrott, den ich im Müll des Viertels fand. Ich baute meinen ersten Zug und eine dreistöckige Burg. Auf diese folgten ein Drache aus Pappmaché und noch später eine Flugmaschine, lange bevor Flugzeuge eine alltägliche Erscheinung am Himmel wurden. Mein liebstes Spielzeug allerdings war Gabriel. Gabriel war ein Engel. Ein wunderschöner Engel, den ich eigenhändig gebastelt hatte, damit er mich vor der Finsternis und den Gefahren des Schicksals bewahre. Ich fertigte ihn aus den Resten eines Bügeleisens und Eisenteilen, die ich in einer leerstehenden Weberei zwei Straßen von unserer Wohnung entfernt auftrieb. Doch meinem Schutzengel Gabriel war nur ein kurzes Leben beschieden.
An dem Tag, als meine Mutter mein gesamtes Spielzeugarsenal entdeckte, war Gabriel dem Tod geweiht.
Meine Mutter brachte mich in den Keller des Hauses, und dort erzählte sie mir im Flüsterton, dass jemand im Schlaf zu ihr spreche. Dabei blickte sie sich ständig um, als fürchtete sie, jemand könne in der Dunkelheit lauern. Dieser Einflüsterer habe ihr mitgeteilt, Spielzeug– jedes Spielzeug– sei das Werk des Teufels, mit dem dieser die Seelen der Kinder der Welt verderben wolle. Noch in dieser Nacht landeten Gabriel und mein gesamtes Spielzeug im Küchenherd.
Meine Mutter bestand darauf, dass wir die Spielsachen gemeinsam vernichteten, um sicherzugehen, dass sie zu Asche verbrannten. Andernfalls, so erklärte sie, werde mich der Schatten meiner verdammten Seele heimsuchen. Jedes Missverhalten, jeder Fehler, jeder Ungehorsam falle auf diesen Schatten zurück, den ich stets in mir trüge, sei er doch ein Spiegelbild meines schlechten, rücksichtslosen Verhaltens ihr und der ganzen Welt gegenüber…
Damals war ich sieben Jahre alt.
Um diese Zeit herum spitzte sich die Krankheit meiner Mutter zu. Sie fing an, mich im Keller einzusperren, wo mich der Schatten nicht finden könne, wenn er mich holen käme. Während dieser langen Gefangenschaften wagte ich kaum zu atmen, aus lauter Angst, mein Schluchzen könne den Schatten auf mich aufmerksam machen, diesen bösartigen Spiegel meiner schwachen Seele, und mich direkt in die Hölle bringen. Das alles mag Ihnen komisch oder vielleicht traurig erscheinen, Madame Sauvelle, doch für den kleinen Jungen von damals war es schauriger Alltag.
Ich will Sie nicht mit schnöden Details aus jener Zeit langweilen. Es genügt, zu erzählen, dass während eines solchen Arrests meine Mutter den letzten Rest Verstand verlor, der ihr noch geblieben war, und ich eine ganze Woche alleine in diesem stockfinsteren Keller saß. Sie werden es bereits in dem Zeitungsartikel gelesen haben, nehme ich an. Eine dieser Geschichten, die die Leute von der Presse gerne auf die Titelseite ihrer Blätter heben. Schlechte Nachrichten, besonders wenn sie ungeheuerlich und haarsträubend sind, tragen mit erstaunlichem Erfolg dazu bei, die Geldbörsen des Publikums zu öffnen. Ach ja, Sie werden sich bestimmt fragen, was ein Kind macht, das sieben Tage und Nächte in einem dunklen Keller eingesperrt ist?
Zunächst einmal erlauben Sie mir die Feststellung, dass der Mensch nach einigen Stunden ohne Licht das Zeitgefühl verliert. Stunden werden zu Minuten und Sekunden. Oder Wochen, wenn Ihnen das lieber ist. Zeit und Licht hängen eng zusammen. Jedenfalls geschah in diesem Zeitraum etwas wirklich Unglaubliches. Ein Wunder. Mein zweites Wunder, wenn Sie so wollen, nach jenen ungewissen Minuten gleich nach meiner Geburt.
Meine Gebete wurden erhört. All die Nächte, in denen ich stumm gebetet hatte, waren nicht vergebens gewesen. Nennen Sie es Glück, nennen Sie es Schicksal.
Daniel Hoffmann kam zu mir. Zu mir. Von allen Kindern in Paris war ich in dieser Nacht auserwählt worden, seine Gunst zu empfangen. Ich erinnere mich noch heute, wie es leise an der Kellerluke klopfte, die nach draußen auf die Straße führte. Ich konnte sie nicht erreichen, aber ich konnte der Stimme
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