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Der dunkle Wächter

Der dunkle Wächter

Titel: Der dunkle Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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verurteilen. Ich werde mich kurz fassen. Gute Geschichten kommen mit wenigen Worten aus…
    Ich kam in der Nacht des 26.Dezember 1882 in einem heruntergekommenen Haus in der finstersten Gasse des Gobelins-Viertels von Paris zur Welt. Ein düsterer, ungesunder Ort. Haben Sie Victor Hugo gelesen, Madame Sauvelle? Wenn ja, dann wissen Sie, wovon ich rede. Dort also brachte meine Mutter mit Hilfe ihrer Nachbarin Nicole ein kleines Baby zur Welt. Es war ein so bitterkalter Winter, dass es offenbar Minuten dauerte, bis ich zu schreien begann, wie man es von einem Baby erwartet. So kam es, dass meine Mutter zunächst überzeugt war, ich sei tot geboren worden. Als sie feststellte, dass dem nicht so war, glaubte die Ärmste an ein Wunder und beschloss– Ironie des Schicksals–, mich auf den Namen Lazarus zu taufen.
    Rückblickend gesehen, ist meine Kindheit für mich eine einzige Abfolge von lärmendem Geschrei in den Gassen und langen Krankheiten meiner Mutter gewesen. In einer meiner frühesten Erinnerungen sitze ich auf den Knien von Nicole, der Nachbarin, und höre zu, wie die gute Frau mir erzählt, dass meine Mutter sehr krank sei und sich nicht um mich kümmern könne, ich solle so gut sein und zu den anderen Kindern spielen gehen. Bei den anderen Kindern, von denen sie sprach, handelte es sich um eine Horde zerlumpter Jungs, die den lieben langen Tag bettelten und mit sieben Jahren bereits gelernt hatten, dass man im Viertel nur überlebte, wenn man Krimineller oder Polizist wurde. Unnötig zu erklären, welche der beiden Möglichkeiten die bevorzugte war.
    Der einzige Hoffnungsschimmer in jenen Tagen im Viertel war eine geheimnisvolle Gestalt, die uns bis in unsere Träume beschäftigte. Ihr Name war Daniel Hoffmann, und dieser Name war für uns alle so phantastisch, dass viele sogar an der Existenz des Mannes zweifelten. Der Legende zufolge streifte Hoffmann in unterschiedlichen Verkleidungen und unter verschiedenen Identitäten durch die Straßen von Paris, um Spielzeug an die armen Kinder zu verteilen, das er in seiner Fabrik hergestellt hatte. Alle Kinder in Paris hatten von ihm gehört und träumten davon, dass eines Tages sie die Glücklichen sein würden.
    Hoffmann war der Herrscher über Magie und Phantasie. Nur eines konnte die Faszination für ihn zunichte machen: das Alter. Wenn die Kinder älter wurden und die Fähigkeit verloren, zu träumen und zu spielen, verschwand der Name Daniel Hoffmann aus ihrem Gedächtnis, bis sie ihn eines Tages, nun erwachsen, nicht mehr wiedererkannten, wenn sie ihn aus dem Munde ihrer eigenen Kinder hörten…
    Daniel Hoffmann war der größte Spielzeugfabrikant, den es je gegeben hatte. Er besaß eine riesige Fabrik im Gobelins-Viertel. Seine Spielzeugmanufaktur erinnerte an eine mächtige Kathedrale, die sich aus der Finsternis dieses unheimlichen, von Gefahren und Armut heimgesuchten Viertels erhob. Mittendrin ragte ein spitzer Turm empor, der bis zu den Wolken reichte. Von dort erklangen jeden Tag des Jahres die Morgen- und die Abendglocken. Das Läuten dieser Glocken war in der ganzen Stadt zu hören. Jedes Kind im Viertel kannte dieses Gebäude, die Erwachsenen hingegen konnten es nicht sehen und glaubten, an dieser Stelle befände sich ein riesiges, undurchdringliches Sumpfgelände, eine Brache im dunklen Herzen von Paris.
    Niemand hatte jemals Daniel Hoffmanns wahres Gesicht gesehen. Es hieß, der Spielzeugmacher bewohne einen Raum ganz oben im Turm, den er kaum je verlasse, außer wenn er in der Abenddämmerung verkleidet durch die Straßen von Paris streife, um den notleidenden Kindern der Stadt Spielzeug zu schenken. Als Gegenleistung verlange er nur eines: das Herz der Kinder, die ihm auf ewig Liebe und Gehorsam versprechen mussten. Jeder Junge aus dem Viertel hätte ihm, ohne zu zögern, sein Herz gegeben. Aber nicht alle hörten den Ruf. Gerüchte sprachen von Hunderten unterschiedlicher Verkleidungen, hinter denen Hoffmann sein wahres Ich verberge. Einige verstiegen sich zu der Behauptung, Daniel Hoffmann verwende keine Aufmachung ein zweites Mal.
    Aber kehren wir zu meiner Mutter zurück. Die Krankheit, von der Nicole sprach, ist für mich noch heute ein Rätsel. Ich habe den Eindruck, dass manche Menschen wie Spielzeug mit einem Fabrikationsfehler zur Welt kommen. In gewisser Weise macht uns das alle zu kaputtem Spielzeug, finden Sie nicht? Jedenfalls ging mit dem Leiden meiner Mutter mit der Zeit ein zunehmender Verlust ihrer geistigen Fähigkeiten

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