Der dunkle Wächter
tastend, ans andere Ende des Saals.
»Vielleicht ist dort der zweite Ausgang«, flüsterte er.
Irene folgte mit dem Blick dem Zeigefinger des Jungen. Sie bemerkte den Lichtfaden, der durch ein Schlüsselloch zu fallen schien. Die Bibliothek war wie ein nach oben zulaufendes Oval aufgebaut; ein schmaler Umgang führte spiralförmig die Wand hinauf und diente als Zugang zu den einzelnen Galerien, die von dort abzweigten. Simone hatte ihr von dieser architektonischen Laune erzählt: Wenn man diesem Gang bis zum Ende folge, gelange man fast bis in den dritten Stock des Hauses. Eine Art Turm von Babel mit Türen, stellte sie sich vor. Jetzt war sie es, die Ismael zu dem Umgang führte und dort rasch nach oben lief.
»Wo willst du hin?«, fragte der Junge.
»Vertrau mir.«
Ismael rannte hinter ihr her. Er spürte, wie der Boden unter seinen Füßen langsam anstieg, je weiter sie kamen. Ein kalter Lufthauch streifte seinen Nacken, und Ismael sah, wie sich der zähe schwarze Fleck auf dem Boden hinter ihm ausdehnte. Der Schatten hatte eine beinahe feste Struktur, nur seine Umrisse schienen mit der Dunkelheit zu verschmelzen. Der gespenstische Fleck breitete sich aus wie eine dicke, glänzende Öllache.
Sekunden später hatte das Gebilde aus flüssiger Schwärze seine Füße erreicht. Ismael spürte eine eisige Kälte, als laufe er über gefrorenes Wasser.
»Schnell!«, schrie er.
Wie sie vermutet hatten, kam der Lichtstrahl durch das Schlüsselloch einer Tür, die nur noch ein halbes Dutzend Schritte von ihnen entfernt war. Ismael rannte schneller, und es gelang ihm, den Schatten unter seinen Füßen für einen kurzen Moment abzuschütteln. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Tür nicht abgeschlossen war, erschien ihm gleich Null. Es würde ihnen wenig nutzen, die Tür zu erreichen, wenn diese nirgendwohin führte.
Irene tastete im Dunkeln das Schloss ab, auf der Suche nach einer Sperrfeder, um sie zu öffnen. Der Junge drehte sich nach dem Schatten um, und sein Blick fiel auf die pechschwarze Masse, die sich vor ihm erhob, eine Skulptur aus dichtem Gas, die langsam Gestalt annahm. Ein finsteres Gesicht bildete sich heraus. Ein vertrautes Gesicht. Ismael glaubte, seine Augen würden ihm einen Streich spielen. Er blinzelte. Das Gesicht blieb. Sein eigenes Gesicht.
Sein dunkles Ebenbild grinste ihn boshaft an, und eine Reptilienzunge schnellte zwischen den Lippen hervor. Instinktiv zog Ismael das Messer, das er dem Automaten in der Eingangshalle abgenommen hatte, und fuchtelte damit vor dem Schatten herum. Die Gestalt hauchte ihren eisigen Atem darauf, und ein Netz aus Eiskristallen überzog die Waffe von der Spitze bis zum Heft. Das gefrorene Metall brannte in seiner Handfläche. Die Kälte, eine bittere Kälte, brannte genauso oder noch stärker als Feuer.
Ismael war kurz davor, die Waffe fallen zu lassen, aber er kämpfte gegen die Muskelstarre an, die seinen Unterarm lähmte, und versuchte die Klinge durch das Gesicht des Schattens zu ziehen. Die Klinge trennte die Zunge ab, die auf einen seiner Füße fiel. Sofort umhüllte die kleine schwarze Masse seinen Knöchel wie eine zweite Haut und begann langsam nach oben zu kriechen. Der Kontakt mit dieser zähen, kalten Materie verursachte ihm Übelkeit.
In diesem Augenblick hörte er das Schloss knacken, mit dem sich Irene hinter seinem Rücken abmühte, und ein Tunnel aus Licht öffnete sich vor ihnen. Das Mädchen lief auf die andere Seite der Tür. Ismael folgte ihr, dann knallte er die Tür zu und ließ ihren Verfolger auf der anderen Seite zurück. Das abgetrennte Stück des Schattens kletterte sein Bein hinauf und nahm die Gestalt einer großen Spinne an. Ein heftiger Schmerz durchfuhr sein Bein. Ismael schrie auf, und Irene versuchte dieses vielbeinige Monstrum abzuschütteln. Nun wandte sich die Spinne gegen das Mädchen und sprang es an. Irene schrie entsetzt auf.
»Mach sie weg!«
Der Junge blickte sich verzweifelt um und entdeckte, woher das Licht kam, das sie geleitet hatte. Eine lange Reihe von Kerzen verlor sich in der Dunkelheit wie eine gespenstische Prozession.
Der Junge ergriff eine der Kerzen und näherte die Flamme der Spinne, die auf Irenes Hals zukroch. Beim Kontakt mit dem Feuer stieß das Tier ein wütendes, schmerzerfülltes Zischen aus und zerfloss zu einem Regen aus schwarzen Tropfen, die zu Boden prasselten. Ismael ließ die Kerze fallen und zog Irene beiseite. Die Tropfen glitten wie Gelatine über den Fußboden und verschmolzen zu
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