Der Durchblicker: Novelle (German Edition)
Konstruktion, aber in der falschen Stadt, auf dem falschen Kontinent. Ein Gebäude ganz im Stil der neuen Welt, aber weil es in Paris steht, lässt es die meisten ziemlich kalt. Der Louvre, die Oper, der Arc de Triomphe, der Eiffelturm; da sind die Leute von beeindruckt, von diesem Mist, den ganzen wunderschönen Bauten. Für den Tour Montparnasse interessiert sich keine Sau. Allerdings: Von der Aussichtsplattform des Montparnasse hat man einen herrlichen Blick über Paris.
Wir beide sitzen im Restaurant in der Spitze des Turms. Es ist ein hässliches, überteuertes Restaurant mit protzigem Ambiente und einer erbärmlichen Speisekarte. Aber wir sind hier glücklich, weil wir ganz allein sind. Wir haben uns ein bisschen auf der inneren Aussichtsebene umgesehen, deren riesige Fensterscheiben ganz fleckig und verdreckt sind. Hinter den Heizkörpern unter dem Geländer, das die Aussichtsplattform umgibt, sind Abfall, faulende Essensreste und Zigarettenkippen gelandet. Das Eindrucksvollste auf dieser Etage sind die Bilder vom Tour Montparnasse in den verschiedenen Bauphasen von der Grundsteinlegung bis zur Fertigstellung. Allerdings sind selbst diese schönen Bilder schon von der Sonne ausgeblichen. Bald wird auf ihnen nichts mehr zu erkennen sein.
Ganz egal, der Schmutz und Schmier stört mich nicht, denn wir sind zusammen, und das ist wunderbar. Für die Parks habe ich keinen Gedanken. Die einzige Wirlichkeit sind die Texte und Bilder. Ich erzähle ihr, dass ich während meiner Schicht im Park ein Gedicht über sie geschrieben habe. Sie bittet mich, es vorzutragen, aber es fällt mir nicht mehr ein.
Sie steht auf und sagt mir, sie will zu Fuß nach unten gehen. Die ganzen Stockwerke hinunter. Sie geht die Stufen hinunter, raus aus dem Restaurant auf die Feuertreppe zu.– Komm schon, sagt sie, während sie in die Dunkelheit eintaucht. Ich blicke in die Dunkelheit, kann sie aber nicht erkennen; ich höre nur ihre Stimme.– Komm schon, ruft sie.
– Ich kann nicht, rufe ich zurück.
– Nur keine Angst, sagt sie.
Die hab ich aber. Mein Blick fällt wieder auf die Aussichtsebene und ihre Lichter. Hier draußen ist Licht, und sie will mich in die Dunkelheit locken. Ich weiß, ich werde sie nie einholen, wenn ich ihr jetzt nachgehe. Das da unten ist keine normale Dunkelheit, keine Dunkelheit mit Abstufungen, sondern hässliche, pechschwarze Finsternis. Ich mache kehrt, zurück ins weiße und gelbe Licht. Neben ihrer Stimme hört man da unten auch andere. Stimmen, die gar nichts mit ihr zu tun haben, mit mir dafür umso mehr. Stimmen, denen ich mich nicht stellen kann; es ist zu verrückt.
Ich trete in den Aufzug. Die Tür schließt sich. Ich drücke auf Erdgeschoss, zweiundvierzig Stockwerke weiter unten.
Er rührt sich nicht. Ich versuche die Tür zu öffnen, aber sie scheint zu klemmen. Ich werde unruhig. Meine Füße pappen am Boden fest; als ob da Kaugummi auf dem Boden dieses Aufzugs wär. Rosa Kaugummi haftet in klebrigen Fäden an den Sohlen meiner Stiefel. Ich sehe auf den Boden des Lifts: Er bläht sich auf. So als würde der Bodenbelag aufquellen. Meine Füße sinken ein, dann scheinen meine Beine glatt hindurchzugehen. Ich sacke durch den Liftboden, langsam und von einem zähen, durchsichtigen rosa Film bedeckt, der das Einzige ist, was mich von einem tödlichen Sturz in den dunklen Aufzugsschacht hinab trennt.
Aber er reißt nicht, er dehnt sich weiter. Ich schaue hoch und sehe mich selbst langsam aus einem Loch im Boden des Aufzugs heruntersinken. Etage41 40 39 38.
Dann gewinne ich an Tempo, während weiße Schriftzeichen vorbeiflitzen, die die Stockwerke anzeigen: 37 36 3534 33 32 31 30 29 28 27 26 25 24 23 22 21 20 (jetzt wieder langsamer, meine Kaugummiblase hält immer noch, hab ich ein Schwein).
19 (In der Schwebe baumelnd, meine Schnur ist jetzt gerade noch fadendick und doch so belastbar.)
(Dann wieder Bewegung, schnelle Bewegung) 18 17 16 15 14 13 12 11 10 9 8 7 6 5 4 3 O NEIIIINN !! 2 1 ERDGESCHOSS –1–2–3–4–5–6–7–8–9 SCHEISSE, WAS GEHT HIER AB? –10–11–12–13–14–15–16–17–18–19–20–21–22–23
Ich gleite immer noch abwärts, gefangen in diesem Kaugummifilm. Ich bin jetzt schon auf–82–83–84–85–86–87–88, und bei–89 berühren meine Füße sanft festen Boden. Es hat den Anschein, als wäre ich wieder in einem Aufzug gelandet, einem ohne Decke diesmal. Ich hebe die Hände über den Kopf, und die dehnbare, gummiartige Strähne reißt unter
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