Der Durchblicker: Novelle (German Edition)
zueinfach; aus ihren Augen schrie der Schmerz und die Desillusionierung. Meine Tränen liefen auf die miesen, stümperhaften Fotos. Aber das war noch nicht das Schlimmste in diesem Lederkoffer.
Ich las alle Briefe, jeden einzelnen. Inhaltlich waren sie sich alle sehr ähnlich, nur die Datumsangaben unterschieden sich. Die Briefe fingen wenige Monate, nachdem sie weggegangen war, an und gingen durch bis 1989. Sie hatte ihm acht Jahre lang aus Australien geschrieben. In allen Briefen standen dieselben, rituell wiederholten Standardbitten:
Ich möchte Kontakt zu den Jungen.
Ich möchte sie bei mir haben.
Bitte lass sie mir schreiben.
Ich liebe sie, ich will meine Kinder.
Bitte schreib mir, Jeff, bitte melde Dich. Ich weiß, dass meine Briefe Dich erreichen.
Was 1989 passiert war, wusste ich nicht, aber danach hatte sie nicht mehr geschrieben.
Ich schreibe mir die Adresse und die Telefonnummer in Melbourne auf einen Notizzettel ab. Das ist totale Scheiße. Noch ein Riesenhaufen Scheiße zu bewältigen. Es kommt immer mehr, immer noch mehr von dieser verdammten Scheiße, durch die man durchmuss. Es hört nie auf. Es heißt, man würde leichter damit fertig, je älter man wird. Das will ich auch hoffen. Verdammte Scheiße, das hoffe ich wirklich.
Es dauert ne Weile, ne direkte internationale Leitung zu kriegen. Ich will mit meiner Ma sprechen, ein langes Gespräch, mir ihre Version der Geschichte anhören, auf seine Kosten auch noch. Ein Typ geht ans Telefon. Ich hab ihn aus dem Bett geholt; der Zeitunterschied; ganz vergessen. Er fragt mich, wer ich bin, und ich sage es ihm.
Der Typ war echt erschüttert. Er klang okay, das muss ich sagen, der Junge klang okay. Er sagte mir, es habe einen Kabelbrand in ihrem Haus gegeben. Er war schlimm. Meine Mum kam damals darin um, 1989. Sie schaffte es, ihre kleine Tochter rauszubringen, aber sie selbst starb an der Rauchvergiftung. Der Typ brach am Telefon zusammen.
Ich legte den Hörer auf. Sobald ich aufgelegt hatte, fing es wieder an zu klingeln.
Ich ließ es klingeln.
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Das Buch
Welche Aussichten hat ein Sechzehnjähriger aus einer Hochhaussiedlung in Edinburgh, wenn er die Schule hinter sich hat? Lehre machen, heiraten, Kinder kriegen, abends Glotze? Brian entscheidet sich anders. Mit seinen Freunden schlägt er sich die Nächte um die Ohren, immer mit dabei: Valium, Ecstasy, Heroin, Kokain, was gerade so kommt. Gelegenheitsjobs und das eine oder andere krumme Ding halten ihn über Wasser. Eigentlich ist alles ganz einfach, Brian weiß, wo’s langgeht, er ist der Durchblicker. Das glauben zumindest die anderen.
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Der Autor
Irvine Welsh , geboren 1958 in Edinburgh, lebt vornehmlich in Dublin und Chicago, ist seiner Heimatstadt aber nach wie vor sehr verbunden. Sein erster Roman
»Trainspotting«
wurde für den
Booker Prize
nominiert und von Danny Boyle verfilmt. Sein jüngster Roman
»Crime«
erscheint 2011 auf Deutsch. Weitere Titel von Irvine Welsh:
Ecstasy, Der Durchblicker, Acid House, Drecksau, Klebstoff, Porno, Die Bettgeschichten der Meisterköche,
Die Übersetzer
Clara Drechsler und Harald Hellmann übersetzen gemeinsam aus dem Englischen, u. a. Werke von Bret Easton Ellis, A. M. Homes, Patti Smith und Nick Hornby.
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1. Auflage 2011
Copyright © 1994 Irvine Welsh
Die Novelle ist 1994 unter dem Titel »A Smart Cunt« in Welshs Erzählband »The Acid House« erschienen.
All rights reserved
Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann
© 1997, 2011 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
eBook © 2011 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Umschlaggestaltung: Barbara Thoben, Köln, nach einer Idee von Vintage Publishing, UK
Umschlagmotiv: © Jonathan Kantor/Getty Images
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
eBook-Produktion: GGP Media GmbH , Pößneck
ISBN: 978-3-462-04358-7 (Buch)
ISBN: 978-3-462-30504-3 (eBook)
www.kiwi-verlag.de
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