Der Durst der Toten
Mister ganz besonders.
»Sein . Sohn?« Die Brille der Frau rutschte bis zur Nasenspitze nach unten, als sie Darren über deren Rand hinweg regelrecht an-starrte.
»Ja, sein Sohn.« Darren hielt mit seiner Ungeduld nicht hinter dem Berg. »Hören Sie, Ma'am, ich möchte nur meinen Vater sehen und mit ihm reden. Und ich will von Ihnen nur eines wissen: Ist das möglich?«
»Nun, wissen Sie, ich ...«, wand sich die Krähe und dann beeilte sie sich zu sagen: »Einen Moment, bitte, ja?«
Sie riß den Hörer förmlich von der Telefonanlage, drückte einen der zahllosen Knöpfe und wandte sich dann ab. Darren verstand nicht, was sie sagte, aber als sie auflegte und sich ihm wieder zudrehte, klebte ein starres Lächeln um ihre fast unsichtbaren Lippen. »Doktor Kafka wird gleich bei Ihnen sein.«
»Doktor . Kafka?«
Die Frau nickte. »Doktor Kafka leitet unsere ... Klinik.«
»Anstalt«, konnte sich Darren nicht verkneifen zu sagen.
»Wie bitte?« Die Stimme kam von oben. »Mister Secada?« Sein Name hallte hohl von den Mauern wider.
Darren sah auf. In den Schatten über ihm bewegte sich eine weiße Gestalt, an ein klassisches Gespenst erinnernd.
»Ja?«
»Kommen Sie bitte herauf.« Wieder klang das Echo der Worte dumpf wie aus Grabestiefe.
Darren ließ die Empfangsdame grußlos zurück und stieg die knarrenden Stufen zur ersten Galerie empor - und blieb am Treppenende verdutzt stehen.
»Sie sind Doktor Kafka?« fragte er.
»Ja, und Sie sind nicht der erste, der sich darüber wundert, daß ich eine Frau bin.« Die dunkelhaarige Mittvierzigerin lächelte ihn entwaffnend an.
»Na ja, ich ...«, meinte Darren.
»Schon gut, kommen Sie, Mister Secada.« Sie verschwand wehenden Kittels hinter der nächsten Ecke, und Darren hatte Mühe mit ihr Schritt zu halten. Einladend hielt sie ihm eine der vom Korridor ab -zweigenden Türen auf. »Bitte sehr.«
»Danke.« Darren trat an ihr vorbei.
Zumindest Dr. Kafkas Büro sah so aus, wie Darren sich das Aller-heiligste eines Irrenanstaltsleiters vorgestellt hatte: insgesamt düster, mit dunklem Mobiliar ausstaffiert und vollgestopft mit Büchern. Und über allem hing wie eine Wolke der Duft von Pfeifentabak .
Auf dem Weg zu ihrem Schreibtisch räumte Dr. Kafka ein paar Bücher von einem der beiden Besuchersessel, dann nahm sie in dem hochlehnigen Stuhl hinter dem mit allen möglichen Dingen übersäten Monstrum Platz und bedeutete Darren wortlos, sich ebenfalls zu setzen. Weiterhin schweigend, nahm sie eine Pfeife zur Hand, stopfte sie gewissenhaft und zelebrierte das Anzünden. Erst nachdem sie sich in bläulichen Nebel gepafft hatte, sprach sie Darren an.
»Sie sind also Brian Secadas Sohn?« Ihr Ton war ganz und gar jovial, weder zweifelnd noch wirklich interessiert.
»Ja, der bin ich wohl.« Darren fühlte sich mit jeder Sekunde, die er hier zubrachte, unbehaglicher. Die Situation hatte etwas durch und durch Irreales.
»Erzählen Sie mir von Ihrem Vater«, forderte ihn die Anstaltsleiterin auf.
»Ich soll ...?« entfuhr es Darren. »Hören Sie, ich bin nicht hier, um von meinem Vater zu erzählen! Ganz abgesehen davon, daß ich das nicht kann -«
»- weil Sie ihn nie kennengelernt haben.« Eine Bewegung hinter den Schwaden, die Darren als Nicken interpretierte. »Ich weiß.«
»Sie wissen?« Darren rang um Fassung. »Warum fragen Sie dann so .«
»... so dumm?« Wieder bewegte sich die Gestalt inmitten des Pfeifenqualms. Diesmal glaubte Darren, etwas wie ein entschuldigendes Schulterzucken darin zu erkennen. »Tut mir leid, reine Macht der Gewohnheit.«
»Woher wissen Sie über mich Bescheid?« fragte Darren.
»Nun, Ihr Vater ist schon eine ganze Weile bei uns.«
»Er ist ... Patient hier?«
»Natürlich.«
»Aus welchem Grund? Ich meine, was . hat er? Welche Krankheit?«
Dr. Kafka ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. Sie blies neuen Rauch aus, als wolle sie die »Mauer« zwischen sich und ihrem Besucher noch verstärken. »Hat Ihnen das niemand gesagt?« erwiderte sie dann.
»Nein. Würde ich sonst fragen?«
»Vermutlich nicht. - Warum kommen Sie gerade jetzt zu uns, um Ihren Vater zu sehen, Mister Secada?«
Darren seufzte. Dann erzählte er, wie er erfahren hatte, daß sein Vater noch lebte und hier lebte.
»Das tut mir leid«, sagte Dr. Kafka, »das mit Ihrer Mutter, meine ich. Ich fürchte nur ...«
»Was?« Darrens Ton wurde eine Spur schärfer, als die Anstaltsleiterin zögerte. »Daß ich umsonst hergekommen bin? Daß ich meinen Vater nicht
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