Der Earl und sein verführerischer Engel (Historical) (German Edition)
zu erkennen. Der ungünstige Winkel machte es ihm unmöglich, daher trat er vom Spiegel zurück. Koste es, was es wolle, aber er würde die Antworten finden, die er brauchte.
Einige davon hielt Emily bereit. Sie nahm sich ihm gegenüber in Acht, und sie tat gut daran. Wahrscheinlich hatte sie ihn belogen, um die Kinder zu schützen. Sie blieb nur bei ihm, weil es für sie keine andere Zuflucht gab.
Ihm war immer noch unerklärlich, warum er sie geheiratet haben sollte – selbst wenn sie als Kinder eine tiefe Freundschaft verbunden hatte. Mehr sogar als Freundschaft, wenn er ehrlich war. Wie Eva einst Adam hatte sie ihn bezaubert mit der unschuldigen Süße ihrer ersten Liebe. Dann allerdings war seinem Vater etwas davon zu Ohren gekommen, und Seine Lordschaft hatte seinem Sohn verboten, Emily wiederzusehen. Wie kam es, dass ihre Pfade sich nach so vielen Jahren wieder gekreuzt hatten? Und warum konnte er sich nicht daran erinnern?
Ein seltsamer Laut riss ihn aus seinen Überlegungen. Stephen wartete einen Moment, bevor er die Tür zum Flur öffnete. Das Wimmern wurde leiser, bis es schließlich verklang. Handelte es sich möglicherweise um ein Tier? Er runzelte die Stirn angesichts des Gedankens, was sonst noch alles ohne seine Erlaubnis ins Haus gebracht worden sein mochte.
Als er den Flur entlangging, fand er heraus, dass der Laut aus einem der Schlafzimmer kam. Nachdem er vorsichtig die Tür geöffnet hatte, fiel sein Blick auf eine schmächtige Gestalt, die zusammengerollt auf dem Bett lag. Für Emily war sie viel zu klein, und als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er den Jungen, dem er heute begegnet war. Wie hatte sein Name doch gleich gelautet? Ralph? Roger? Der Knabe lag auf dem Bauch, das Gesicht ins Kissen vergraben, und die schmalen Schultern bebten.
Der Anblick schnürte Stephen die Kehle zu, aber er machte keine Anstalten, das Kind zu trösten. Ihm schien, als wären seine Füße auf dem Boden festgewachsen, und er sagte sich, dass er weder der Vater des Jungen war noch sein Vormund – gleichgültig, was Emily behaupten mochte. Es oblag ihm nicht, sich einzumischen. Außerdem war es besser für den Knaben, wenn er lernte, dass er von anderen Menschen keinen Trost erwarten durfte. So war es ihm von seinem eigenen Vater beigebracht worden, bis er gelernt hatte, die Tränen zu unterdrücken. Es schickte sich nicht für den zukünftigen Earl, zu weinen oder überhaupt Gefühle zu zeigen. Die hatte ihm sein Vater so lange ausgetrieben, bis Stephen zu einem Vorbild an Beherrschtheit geworden war.
Als das Schluchzen des Jungen allmählich verebbt war und er gleichmäßig zu atmen begonnen hatte, trat Stephen ans Bett. Er breitete die Decke über das Kind und verließ den Raum so leise, wie er ihn betreten hatte.
Es war noch dunkel draußen, aber das Geräusch des Regens, der gegen die steinernen Mauern des Hauses schlug, verhalf Emily zu einem Gefühl von Behaglichkeit. Die junge Magd Lizbeth machte Feuer im Herd, und sobald sich angenehme Wärme in der Küche ausgebreitet hatte, begann Emily den Brotteig zu kneten.
Ihr war bewusst, dass die Dienerschaft sie mit einer Mischung aus Neugierde und Unbehagen beobachtete. Es schickte sich einfach nicht für die Tochter eines Barons, in der Küche zu arbeiten. Doch Emily hatte ein großes Bedürfnis, sich nützlich zu machen. Es war ihr unangenehm, den Hausangestellten Anweisungen zu geben, da sie bis vor Kurzem praktisch selbst eine Bedienstete gewesen war.
Nach dem Tod ihres Vaters hatte sie ihr Bestes getan, um die Familie zusammenzuhalten. Die geschäftlichen Misserfolge ihres Bruders Daniel hatten ihr zunehmend Kopfzerbrechen bereitet, aber sie hatte gelernt, jegliche Kritik für sich zu behalten. Keiner ihrer Verwandten wäre bereit gewesen, ihnen zu helfen, nachdem …
Sie zwang sich, nicht an den beschämenden Skandal zu denken. Sie hatte getan, was getan werden musste, als Hab und Gut verschachert worden waren, nachdem Daniel das gesamte Vermögen verspielt hatte.
Vor lauter Trauer um seine Frau war er nicht mehr er selbst gewesen. Emily hatte ihm verziehen, in dem Wissen, dass sie selbst sich auf eine Ehe keine Hoffnungen mehr machen konnte. Dennoch war sie jetzt verheiratet.
Rhythmisch knetete sie den Brotteig, und die gleichförmige Arbeit half ihr, sämtliche Sorgen und Nöte aus ihren Gedanken zu vertreiben. Den vertrauten Geruch von Hefe in der Nase, genoss sie es, Zeit zum Nachdenken zu haben.
Whitmore
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