Der Ego-Tunnel
Erlebeneinzudringen. Gleichzeitig werden chaotische innere Signale durch das erzeugt, was man (den lateinischen Fachausdrücken folgend) die PGO-Wellen nennt. Diese elektrischen Ausbrüche neuronaler Aktivität, die nach den an ihnen beteiligten Hirnregionen benannt sind (die Brücke, der seitliche Kniehöcker im Thalamus und die primäre Sehrinde im hinteren Teil unseres Kopfs), hängen nicht nur mit Augenbewegungen, sondern auch mit der Verarbeitung visueller Informationen eng zusammen. 6
Während das Gehirn verzweifelt versucht, dieses chaotische innere Signalmuster zu verstehen und zu interpretieren, erzählt es sich selbst ein Märchen, in dem das Ego des Traumzustands die Hauptrolle spielt. Der interessante Punkt ist, dass dieses Traum-Ego nicht weiß, dass es träumt. Das System erkennt die Signale, die es in eine innere Erzählung verwandelt, nicht als selbsterzeugte Eigenreize – im philosophisch-kognitionswissenschaftlichen Fachjargon ist dieses Merkmal des Traumzustands ein »metakognitives Defizit«. Das Traum-Ego ist in einem Wahn gefangen, ihm fehlt die Einsicht in das Wesen des Zustands, den es selbst erzeugt.
Luzides Träumen
Aus alldem ergibt sich natürlich die Frage, ob vielleicht Formen des Träumens existieren, die zusätzlich eine Qualität der Einsicht besitzen, Träume, in denen das Selbstmodell so stark und reichhaltig geworden ist, dass es uns erlaubt, zu verstehen, was gerade geschieht. Kann man die eigene innere Virtualität bewusst erleben? Kann man ohne das metakognitive Defizit träumen? Die Antwort lautet: Ja! Man kann Träume haben, in denen man sich nicht nur der Tatsache bewusst ist, dass man jetzt gerade träumt, sondern in denen man zugleich eine vollständige Erinnerung sowohl an das vorangegangene Traumleben als auch an das Wachleben hat und darüber hinaus die phänomenale Eigenschaft der Agentivität besitzt, und zwar auf der Ebene der Aufmerksamkeit, des Denkens und des Verhaltens. Man nennt solche Träume luzide Träume oder Klarträume . Sie sindäußerst interessant – nicht so sehr, weil sie uns auf risikolose Weise in ein aufregendes inneres Abenteuer entführen können, sondern weil sie neue Wege eröffnen, das Phänomen des bewussten Erlebens genauer zu untersuchen. Insbesondere helfen sie uns zu verstehen, wie die verschiedenen Schichten des Selbstmodells konstruiert und mit dem Traum-Tunnel verwoben werden.
Im Jahre 1913 berichtete der holländische Psychiater Frederik van Eeden, der den Fachbegriff »luzides Träumen« geprägt hat, der Society for Psychical Research über die folgende Erfahrung:
Im Januar 1898 … gelang es mir, die Beobachtung zu wiederholen … Ich träumte, dass ich im Garten lag, vor den Fenstern meines Arbeitszimmers, und ich sah die Augen meines Hundes durch die Glasscheibe. Ich lag auf dem Bauch und beobachtete den Hund sehr genau. Gleichzeitig jedoch wusste ich mit vollkommener Gewissheit, dass ich träumte und auf dem Rücken in meinem Bett lag. Und dann beschloss ich, langsam und vorsichtig aufzuwachen und dabei zu beobachten, wie sich mein Gefühl, auf dem Bauch zu liegen, in das Gefühl verwandelte, auf dem Rücken zu liegen. Und so tat ich es, langsam und willentlich, und der Übergang, den ich seither viele Male durchlaufen habe, ist höchst wunderbar. Es ist wie das Gefühl, von einem Körper in den anderen zu schlüpfen, und es gibt eine klare und ausgeprägte doppelte Erinnerung an die beiden Körper. Ich erinnerte mich an das, was ich in meinem Traum fühlte, während ich auf dem Bauch lag, aber bei meiner Rückkehr ins Wachleben erinnerte ich mich auch daran, dass mein physischer Körper die ganze Zeit über ruhig auf dem Rücken gelegen hatte. Diese Beobachtung eines doppelten Gedächtnisses habe ich seitdem bei vielen Gelegenheiten gemacht. Sie ist so unbezweifelbar, dass sie fast unweigerlich zur Vorstellung eines Traumkörpers führt. 7
Van Eedens »Traumkörper« ist das Selbstmodell im Traumzustand. Luzide Träume sind deshalb faszinierend, weil sie zeigen, dass unser naiver Realismus – unser fehlendes Bewusstsein der Tatsache, dass wir unser Leben in einem Ego-Tunnel leben – zeitweilig aufgehobensein kann. Sie sind daher ein vielversprechender Ansatzpunkt für eine wissenschaftliche Lösung dessen, was ich bei unserem ersten Streifzug durch den Tunnel in Kapitel 2 das Realitätsproblem genannt habe. Ein luzider Traum ist die globale Simulation einer Welt, in der wir uns plötzlich der Tatsache bewusst werden,
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