Der Ego-Tunnel
EEG-Korrelate zwischen den beiden Gruppen hinreichend ähnlich waren, lässt dies stark vermuten, dass sie in ihren Träumen sehen können – aber tun sie es wirklich? 4 Ebenfalls interessant ist, dass Kellers Traum-Tunnel die phänomenalen Qualitäten des Riechens und Schmeckens aufwies, während die meisten von uns diese nur selten im Traumzustand erleben. Es scheint, als ob ihr Traum-Tunnel reichhaltiger wurde, weil der Tunnel des Wachlebens einige seiner qualitativen Dimensionen eingebüßt hatte.
Der Traum-Tunnel zeigt, in welchem Ausmaß das bewusste Erleben eine virtuelle Realität ist: Er simuliert innerlich einen Verhaltensraum, einen Raum von Möglichkeiten, in dem man handeln kann. Der Traum-Tunnel simuliert auch die konkreten Qualitäten der Sinneseindrücke des wirklichen Lebens. Wie schon in Kapitel 3 diskutiert, versuchen heutige Entwickler von virtuellen Realitäten genau das zu erreichen (es ist sicher kein Zufall, dass eine der besten akademischen Fachzeitschriften für die Technologie der virtuellen Realität den Titel Presence trägt). Ebendieses Gefühl der Präsenz, der subjektiven Anwesenheit und des vollständigen Eintauchens, haben unsere biologischen Vorfahren schon vor langer Zeit erreicht. Das sich daraus ergebende Ego hat jedoch ein noch robusteres Gefühl der Anwesenheit erzeugt, und zwar für den Traum und für das Wachleben. Andernfalls würden wir heute wahrscheinlich nicht versuchen, virtuelle Realitäten zu erschaffen, und wir würden auch nicht die Fähigkeit des menschlichen Gehirns erforschen, dieses Wunder in sich selbst zu vollbringen.
Obwohl Träume Verhaltensräume sind, sind sie nicht kausal an den realen Verhaltensraum des träumenden menschlichen Organismus gekoppelt. Träumer sind keine körperlich Handelnden. Ihr Verhalten ist internes, simuliertes Verhalten. Die vorübergehende Hemmung gewisser motorischer Nervenzellen im oberen Ende der Wirbelsäule verhindert, dass während des Traumschlafs – also während des REM-Schlafs (REM ist die Abkürzung für rapid-eye-movement , schnelle Augenbewegung) – echtes körperliches Verhalten erzeugt wird. Auf diese Weise ist das Traum-Ego vom physischen Körper getrennt. Wenn diese motorische Hemmung versagt, wiedas etwa bei einer Störung namens RBD (für REM-sleep behavior disorder ) der Fall ist, dann wird das innere Traumverhalten tatsächlich in der Wachwelt ausagiert. RBD findet sich zumeist bei Männern über sechzig und tritt in Verbindung mit einem Verlust der normalerweise für den REM-Schlaf typischen und ihn begleitenden Erschlaffung der Muskulatur auf. Patienten, die unter RBD leiden, sind gezwungen, dramatische und häufig gewalttätige Träume auszuagieren. Zum Beispiel rufen oder grunzen sie laut. Womöglich versuchen sie, ihre Bettgenossen zu erwürgen, ihr Bett anzuzünden, aus dem Fenster zu springen oder gar mit einem Gewehr zu schießen. 5 Später werden sie sich nur wenig oder gar nicht an diese physischen Aktivitäten erinnern – es sei denn, sie fallen aus dem Bett, stoßen gegen ein Möbelstück oder verletzen sich selbst oder jemand anderen und wachen davon auf. Aber für gewöhnlich können sie sich an die Träume selbst erinnern, die zumeist von physischen Aktivitäten wie Kämpfen, Rennen, Jagen oder Gejagtwerden und Angreifen oder Angegriffenwerden handeln. Diese Patienten scheinen darüber hinaus gewalttätige und aggressive Trauminhalte häufiger zu erleben als gesunde Menschen. Natürlich ist dies ein gefährlicher Zustand, der zu Selbstverletzungen und schwerem Schlafmangel führen kann. Wir können daraus wiederum lernen, wie der Traumkörper unter normalen Zuständen vom physischen Körper abgekoppelt ist. Normalerweise sind Träumer keine körperlich Handelnden, und ihr gesamtes Verhalten ist ausschließlich internes, simuliertes Verhalten. Wenn jedoch die motorische Hemmung versagt, wie das bei RBD der Fall ist, wird das interne Traumverhalten vom physischen Körper ausagiert.
Das interessanteste Merkmal gewöhnlicher Träume führt zu einigen tieferen philosophischen Überlegungen über das Wesen des Bewusstseins. Der Traum-Tunnel wird in einer sehr speziellen Konfiguration generiert: Während des REM-Schlafs gibt es, wie bereits bemerkt, eine Output-Blockade, die für die Lähmung des Schlafenden verantwortlich ist, und daneben eine Input-Blockade, die (zumindest in einem gewissen Ausmaß) sensorische Signale aus der Umgebung des Schlafenden daran hindert, in das bewusste
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