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Der Ego-Tunnel

Der Ego-Tunnel

Titel: Der Ego-Tunnel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Metzinger
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interessiert, er kann auch tatsächlich alles tun , was er will – fliegen, durch Wände gehen oder sich mit Traumfiguren unterhalten. Das Subjekt eines luziden Traums ist kein passives Opfer, das sich in einer Abfolge bizarrer Episoden verloren hat, sondern vielmehr ein echter autonomer Agent, ein Handelnder, der in der Lage ist, aus einer Vielzahl möglicher Handlungen auszuwählen.
    Die volle Kontrolle der eigenen Aufmerksamkeit ist ein wichtiges Merkmal, das Klarträume von gewöhnlichen Träumen unterscheidet. Einsicht in die eigene Handlungsfreiheit ist ebenfalls ein wichtiges Kriterium für luzide Träume (aber kann man wirklich von Einsicht sprechen?). Während gewisser Phasen, die manchmal als prä-luzide Träume bezeichnet werden, wird uns häufig bewusst, dass all dies nicht real ist, dass es ein Traum sein muss, aber wir bleiben trotzdem passive Beobachter. Mit dem Einsetzen voller Luzidität verwandelt sich der Träumer von einem passiven Beobachter in einen Handelnden – in jemanden, der die Kontrolle übernimmt, sich in der Traumwelt bewegt, Dinge untersucht und experimentiert, der vorsätzlich damit beginnt, in Wechselwirkung mit der Traumwelt zu treten und sie zu gestalten.
    Mein Lieblingsexperiment in der Erforschung luzider Träume wurde vor mehr als einem Vierteljahrhundert von dem Psychophysiologen Stephen LaBerge und seinem Team an der Universität Stanford durchgeführt. 11 Es machte sich die Tatsache zunutze, dassunser bewusstes Selbstmodell auf faszinierende Weise fest im Gehirn verankert ist: Es besteht nämlich eine direkte und zuverlässige Beziehung zwischen den Blickbewegungen, über die Klarträumer berichten, und den Augenbewegungen, die man an ihrem schlafenden Körper beobachten kann. In einem Schlaflabor kann man diese Augenbewegungen mit Hilfe eines Polygraphen aufzeichnen. Die Tatsache, dass die Bewegungen der Traumaugäpfel im Traumkörper durch eine zuverlässige kausale Brücke mit den Bewegungen der physischen Augäpfel in unserem physischen Körper verbunden sind, wurde von LaBerge in einem besonders genialen Experiment ausgenutzt. Erfahrene Versuchspersonen zeigten nun den Beginn eines Klartraums mit speziellen Augensignalen an, die vor den Experimenten festgelegt worden waren – nämlich, indem sie ihre Augen schnell auf und ab bewegten. Zwei solcher Augenbewegungen teilten dem Versuchsleiter mit, dass gerade ein luzider Traum begonnen hatte, vier signalisierten den Beginn des Aufwachvorgangs. Die polygraphische Analyse offenbarte, dass das Einsetzen von Luzidität in der Regel mit den ersten beiden Minuten einer REM-Phase in Verbindung steht, aber auch mit sehr kurzen Zeiträumen von Wachbewusstsein während einer REM-Phase oder mit erhöhter phasischer REM-Aktivität (die gekennzeichnet ist durch eine plötzliche Erhöhung der Anzahl der Augenbewegungen und manchmal durch Muskelzuckungen und weit verteilte synchronisierte Aktivität in speziellen thalamokortikalen Netzwerken). 12 Einfach ausgedrückt, scheint Luzidität dann aufzutreten, wenn es zu einem kurzen und plötzlichen Anstieg des allgemeinen Erregungsniveaus in der Großhirnrinde kommt: Alle Nervenzellen werden wesentlich aktiver, was dazu führt, dass plötzlich mehr »komputationale Leistung« beziehungsweise stark verbesserte Möglichkeiten der Informationsverarbeitung zur Verfügung stehen. Was den Inhalt des Traums selbst betrifft, so scheint Luzidität zu erhöhter Lebendigkeit, verstärktem Auftreten von Angstzuständen oder Stress, der Entdeckung von Widersprüchen in der Traumwelt und natürlich zu dem subjektiven Erlebnis zu führen, dass man sich einer »traumartigen« oder »irrealen« Qualität der Wirklichkeit bewusst wird.
    Ich mag diese Experimente deshalb, weil sie ein seltenes Beispiel für die Kommunikation zwischen verschiedenen Arten von Realitätstunneln sind. Wenn der Klarträumer im Schlaflabor Augensignale aussendet, indem er seine Traumaugen absichtlich auf- und abbewegt, und Wissenschaftler in der Wachwelt diese Signale von ihren Instrumenten ablesen, dann wird auf diese Weise eine Verbindung zwischen dem Traum-Tunnel und dem Wach-Tunnel hergestellt, ein Kommunikationskanal, der für mehrere Benutzer offen ist. Weil die vom Traumkörper durchgeführten Blickbewegungen funktional mit den Augenbewegungen im physischen Körper verknüpft sind und weil der luzide Träumer von dieser Tatsache weiß, lässt sich eine Brücke bauen, die die beiden Tunnel verbindet. Bei diesem

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