Der Ego-Tunnel
Perspektive, aus der dieses bewusste Selbst die Welt wahrnimmt, ganz anders – und wesentlich instabiler – als die des Wachlebens.
Ist Ihnen jemals aufgefallen, dass Sie Ihre Aufmerksamkeit in Ihren Träumen nicht kontrolliert lenken können? Im Allgemeinen fehlt dort die höherstufige, willentlich kontrollierte Form der Aufmerksamkeit. Dementsprechend besitzt das Traum-Selbst, das innerhalb des Ego-Tunnels erzeugt wird, während Sie schlafen, auch nicht jene spezifische phänomenale Qualität, die ich im vorangegangenen Kapitel als attentionale Agentivität beschrieben habe, also das bewusste Erleben, dass man den Strahl des eigenen inneren Scheinwerfers willentlich und selektiv auf verschiedene Gegenstände richten kann. Attentionale Agentivität meint freilich nicht bloß die Fähigkeit, an etwas »heranzuzoomen« oder den eigenen Geist auf bestimmte Merkmale des eigenen Weltmodells zu lenken. Sie bringt auch ein Gefühl der Meinigkeit mit sich – Meinigkeit in Bezug auf den Vorgang des Auswählens, welcher der Aufmerksamkeitsverschiebung vorausgeht. Beide Aspekte fehlen in Träumen. In gewisser Weise ist man wie ein Säugling oder wie jemand, der einen Vollrausch hat. Das Traum-Ego ist wesentlich schwächer als das Ego des Wachbewusstseins.
Wenn man tiefer in die besondere Phänomenologie eindringt, die durch das träumende Ego entsteht, entdeckt man eine deutlich ausgeprägte Willensschwäche und schwerwiegende Verzerrungen des Denkvorgangs. In gewöhnlichen Träumen kann man sich manchmal überhaupt nicht als Handelnder erleben. So ist es zum Beispiel schwierig, eine Entscheidung zu fällen und dann an ihr festzuhalten. Aber selbst, wenn einem das gelingt, ist man in der Regel nicht in der Lage, sich selbst die Fähigkeit zur Handlungskontrolle zuzuschreiben. Das träumende Selbst ist ein verwirrter Denker, völlig desorientiert bezüglich Ort, Zeit und Identität von anderen Personen. Das Kurzzeitgedächtnis ist stark beeinträchtigt und unzuverlässig. Außerdem hat das Traum-Selbst nur selten sinnliche Erfahrungen wie Schmerz, Temperatur, Geruch oder Geschmack. Noch interessanter ist die extreme Instabilität der Erste-Person-Perspektive: Aufmerksamkeit, Denken und Wollen sind hochgradiginstabil und treten allenfalls zeitweilig und mit Unterbrechungen auf – gleichwohl schert sich das gewöhnliche träumende Ego nicht wirklich darum, wenn es ihm denn überhaupt auffällt. Das Traum-Selbst ist wie der anosognostische Patient, dem nach einer Hirnverletzung die Einsicht in bestimmte Ausfälle und geistige Defizite fehlt.
Gleichzeitig jedoch erzeugt das Traum-Selbst intensive Gefühlserlebnisse – manche Aspekte des Selbst sind im Traum-Tunnel eindeutig stärker ausgeprägt als im Tunnel des Wachbewusstseins. Wer jemals einen richtigen Albtraum gehabt hat, weiß, wie intensiv das Gefühl der Panik während eines Traums werden kann. Im Traumzustand zeichnet sich das emotionale Selbstmodell mitunter durch ungewöhnlich intensive Gefühlsstärken aus, auch wenn dies nicht für alle Emotionen gilt. Zum Beispiel treten Furcht, Begeisterung und Wut häufiger auf als Traurigkeit, Scham und Schuldgefühle. 2
Gelegentlich erlaubt es der Traum-Tunnel dem Ego, auf Informationen über sich selbst zuzugreifen, die im Wachzustand nicht verfügbar sind. Während das Kurzzeitgedächtnis üblicherweise beeinträchtigt ist, kann das Langzeitgedächtnis deutlich verbessert sein. So ist es möglich, Episoden aus der eigenen Kindheit noch einmal sehr lebendig und hautnah zu durchleben – Erinnerungen, die während des Wachzustands niemals zugänglich gewesen wären. Im Allgemeinen vergessen wir sie danach, weil die meisten von uns nur eine schwache Traumerinnerung haben. Aber solange der Traum andauert, haben wir Zugang zu zustandsspezifischen Formen des Selbstwissens.
Blinde Menschen sind manchmal in der Lage, im Traum zu sehen. Helen Keller, die im Alter von neunzehn Monaten taub und blind wurde, betonte die Bedeutung dieser gelegentlichen visuellen Erlebnisse: »Löschen Sie die Träume aus, und die Blinden verlieren eine ihrer wichtigsten Tröstungen. Denn in den Visionen des Schlafs bewahren sie ihren Glauben an den sehenden Geist und ihre Erwartung von Licht jenseits der leeren Enge der Nacht.« 3 In einer wissenschaftlichen Studie fertigten blind geborene Versuchspersonen Zeichnungen ihrer Trauminhalte an, die Sachverständige nicht von den Zeichnungen sehender Versuchspersonen unterscheiden konnten,und weil die
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