Der Ego-Tunnel
ging hinüber zu meiner Schwester, weckte sie auf und teilte ihr aufgeregt mit, dass ich es eben gerade wieder geschafft hatte und dass ich eben gerade unten im Garten war und noch vor einer Minute auf dem Rasen herumgehüpft war. Meine Schwester schaute auf ihren Wecker und sagte: »Mann, es ist Viertel vor drei! Musst Du mich aufwecken? Kann das nicht bis zum Frühstück warten? Mach das Licht aus und lass mich in Ruhe!« Sie drehte sich um und schlief wieder ein. Ehrlich gesagt war ich ob dieses Mangels an Interesse etwas enttäuscht.
Mir fiel auch auf, dass sie, während sie an dem Wecker herumgefummelt hatte, versehentlich den Alarm ausgelöst hatte. Er piepte vor sich hin, und ich hoffte, dass niemand sonst geweckt worden war. Zu spät! Ich konnte hören, wie sich draußen jemand näherte.
In diesem Augenblick wachte ich auf. Ich befand mich nicht oben im Haus meiner Eltern in Frankfurt, sondern in meinem Kellerzimmer in dem Haus, das ich mit vier Freunden bewohnte und das etwa 35 Kilometer entfernt lag. Es war nicht Viertel vor drei in der Nacht, die Sonne schien, und ich hatte ganz offensichtlich einen kurzen Mittagsschlaf gemacht. Über fünf Minuten lang saß ich wie eingefroren auf der Bettkante und wagte es nicht, mich zu bewegen. Ich war mir unsicher, wie real diese Situation war. Ich verstand nicht, was gerade mit mir geschehen war. Ich wagte es nicht, mich zu rühren, weil ich Angst hatte, dass ich ein weiteres Mal aufwachen könnte, in der nächsten ultrarealistischen Umgebung.
In der Traumforschung ist dies ein bekanntes Phänomen, man nennt es das »falsche Erwachen«. Hatte ich wirklich eine außerkörperliche Erfahrung? Oder hatte ich nur einen luziden Traum von einer außerkörperlichen Erfahrung? Kann man von einer OBE via falsches Erwachen in einen gewöhnlichen Traum hinübergleiten? Sind am Ende alle OBEs Sonderformen des luziden Traums? Zweimal hintereinander aufzuwachen ist etwas, das viele der theoretischen Intuitionen und Hintergrundannahmen zerstören kann, die man über Bewusstsein hat – etwa dass die Lebendigkeit, die Kohärenz, dieKlarheit und die Prägnanz eines bewussten Erlebnisses Belege dafür sind, dass man sich tatsächlich in Berührung mit der Wirklichkeit befindet. Ganz offensichtlich ist das, was wir »Aufwachen« nennen, etwas, das einem an jedem Punkt in der phänomenologischen Zeitlinie widerfahren kann. Diese empirische Tatsache ist von großer Relevanz für die philosophische Erkenntnistheorie. Erinnern wir uns an die Diskussion in Kapitel 2 über die Evolution des menschlichen Bewusstseins und darüber, wie die Unterscheidung zwischen Dingen, die uns nur erscheinen, und objektiven Fakten zu einem Bestandteil unserer gelebten Realität wurde. Jetzt können wir sehen, was es bedeutet, dass die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Wirklichkeit nur auf der Ebene der Erscheinung selbst auftrat: Das falsche Erwachen zeigt, dass Bewusstsein nie mehr ist als das Erscheinen einer Welt. Auf einer neuen Ebene wird deutlich, was mit der »phänomenalen Transparenz« des Selbstmodells gemeint ist. Es gibt keine Gewissheit, noch nicht einmal über den Zustandstyp, über die allgemeine Kategorie von bewusstem Erlebnis, in dem Sie sich gerade befinden. Woher wissen Sie also, dass Sie tatsächlich heute Morgen aufgewacht sind? Könnte es nicht vielleicht sogar so sein, dass alles, was Sie bis jetzt erlebt haben, nur ein Traum war? 1
Träume sind bewusst, weil sie das Erscheinen einer Welt erzeugen, zugleich aber – wie in Kapitel 2 erläutert – sind sie Offline -Zustände – globale Zustände bewussten Erlebens, in denen das Ego vom sinnlichen Input abgekoppelt und daher unfähig ist, äußeres motorisches Verhalten zu erzeugen. Der Traum-Tunnel enthält nicht nur das Erscheinen einer Welt, sondern erzeugt (zumindest in den meisten Fällen) gleichzeitig auch ein vollständig verkörpertes, räumlich ausgedehntes Selbst, das sich in einer räumlich ausgedehnten Umgebung bewegt. Das virtuelle Selbst, das auf diese Weise geboren wird, ist ein ausschließlich internes Phänomen, und zwar in einem noch stärkeren Sinne, als dies für das Selbst des Wachbewusstseins gilt: Es ist in ein dichtes Netzwerk aus Kausalbeziehungen eingebunden und verwoben, die aber alle innerhalb des Gehirns ihren Ort haben. Träumer sind selbstbewusst, aber funktional gesehen sind sie nicht situiert . Träume sind subjektive Zustände, da es in ihnen einphänomenales Selbst gibt. Jedoch ist die
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