Der Ego-Tunnel
kein Phänomen dieser Art existiert hat. Aber es wird auch immer offenkundiger, dass die psychologische Evolution uns nicht für dauerhaftes Glück optimiert hat – ganz im Gegenteil, sie hat uns auf die hedonische Tretmühle gesetzt. Wir werden dadurch angetrieben, dass wir emotionale Sicherheit sowie Vergnügen und Freude suchen und Schmerzen und Depressionen vermeiden. Die hedonische Tretmühle ist der Motor, den die Natur erfunden hat, um den Organismus am Laufen zu halten. Wir können seine Struktur in uns selbst erkennen, aber wir werden niemals in der Lage sein, ihm zu entfliehen. Wir sind diese Struktur.
In der Evolution der Nervensysteme auf unserem Planeten hat sowohl die Anzahl der einzelnen Bewusstseinssubjekte als auch die Tiefe ihres phänomenalen Zustandsraums (das heißt auch: der Reichtum und die Vielfalt der sinnlichen und gefühlsmäßigen Nuancen, in denen diese Subjekte leiden konnten) stetig zugenommen, und dieser Vorgang ist noch nicht zu einem Ende gekommen. Die Evolution als solche ist kein Vorgang, den man verherrlichen könnte: Sie ist blind. Sie wird durch Zufallsereignisse angetrieben und nicht durch irgendeine Form von Einsicht. Sie ist absolut gnadenlos und hat Millionen unserer Vorfahren geopfert. Sie erfand das Belohnungssystem im Gehirn ebenso wie positive und negative Gefühle, um unser Verhalten zu motivieren. Sie stellte uns auf eine hedonische Tretmühle, die uns ständig zwingt, so glücklich wie eben möglich zu sein – uns gut zu fühlen –, ohne dass wir jemals einen stabilen Zustand erreichen. Aber wie wir jetzt sehr deutlich erkennen können, hat dieser Vorgangunser Gehirn und unseren Geist nicht in Richtung auf Glück oder Einsicht als solche optimiert. Biologische Ego-Maschinen wie Homo sapiens sind effizient und elegant, aber viele empirische Daten deuten auf die Tatsache hin, dass Glücklichsein niemals ein Zweck an sich war.
Vielmehr gibt es – wenn wir der naturalistischen Weltsicht folgen – überhaupt keine Zwecke. Streng genommen gibt es noch nicht einmal Mittel – die Evolution ist einfach so geschehen. Natürlich sind in ihr so etwas wie subjektive Ziele und Zwecke entstanden und dann in unserem Bewusstsein erschienen, aber der Vorgang als Ganzer respektiert sie mit Sicherheit in keiner Weise. Die Evolution nimmt keine Rücksicht auf das Leiden der Einzelwesen. Wenn das zutrifft, ergibt sich aus der Logik der psychologischen Evolution, dass diese Tatsache der auf der hedonischen Tretmühle gefangenen Ego-Maschine am besten so weit wie möglich verborgen bleibt (hier sei an die in Kapitel 4 diskutierten »halluzinierten« Ziele erinnert). Es wäre ein Vorteil, wenn tiefere Einsichten in die Struktur des eigenen Geistes – Einsichten der gerade angedeuteten Art – sich nicht zu stark auf der Ebene ihres bewussten Selbstmodells widerspiegeln würden. Viele neue Einsichten aus der evolutionären Psychologie zeigen, dass Selbsttäuschung eine sehr erfolgreiche Strategie sein kann – zum Beispiel wenn man andere Wesen auf besonders wirksame Weise täuschen muss. Aus einer traditionellen evolutionären Perspektive gesehen, ist der philosophische Pessimismus eine Fehlanpassung, ein gefährlicher Verlust der »geistigen Gesundheit«, zumindest im rein biologischen Sinne. Aber nun beginnen die Dinge sich zu verändern: Die Wissenschaft greift zunehmend auf störende Weise in unsere natürlich entwickelten Verdrängungsmechanismen ein; sie beginnt zunehmend, Licht auf diesen blinden Fleck im Ego-Tunnel zu werfen. 7
Wahrheit könnte mindestens genauso wertvoll sein wie Glück. Man kann sich leicht jemanden vorstellen, der ein ziemlich erbärmliches und unglückliches Leben führt, während er gleichzeitig bedeutende Beiträge zu Philosophie oder Wissenschaft leistet. Eine solche Person leidet womöglich unter starken Schmerzen oder unter Einsamkeitund Selbstzweifeln, aber man könnte ihr Leben mit Sicherheit dennoch als wertvoll betrachten – etwa aufgrund des Beitrags, den sie zum Erkenntnisfortschritt der Menschheit leistet. Wenn sie selbst das ebenfalls glaubt, dann könnte sie sogar eine bewusst erlebte Form von Trost in dieser Überzeugung finden. Ihre Form von Glück wäre insofern von ganz anderer Art als das Glück unserer Glückseligkeitsmaschinen oder der Versuchspersonen, die an Robert Nozicks Erlebnismaschine angeschlossen wurden. Sicher würden viele zustimmen, dass diese »epistemische« Art von Glück sehr viel Unglück vom rein phänomenalen Typ
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