Der Ego-Tunnel
Prinzip nicht in Teile zerlegen könnte, kein substanzielles Selbst, das unabhängig vom Körper existieren könnte. Im Moment sieht es so aus, als ob es so etwas wie ein »Selbst« in irgendeinem stärkeren oder metaphysisch interessanteren Sinne des Wortes schlichtweg nicht gibt. Es scheint, als müssten wir der Tatsache ins Angesicht schauen: Wir sind selbstlose Ego-Maschinen.
Es ist schwer, dies zu glauben. Sie können es nicht glauben. Dies mag auch der eigentliche Kern des Bewusstseinsrätsels sein: Wir beginnen zu ahnen, dass seine Lösung radikal kontraintuitiv ist, etwas, das allen Vorstellungen und Erwartungen zuwiderläuft. Das größere Gesamtbild, nach dem wir suchen, lässt sich nicht wirklich im Ego-Tunnel reflektieren – es würde den Tunnel selbst auflösen. Anders ausgedrückt: Wenn wir diese Theorie auch als wahr erleben wollten, so könnten wir dies nur tun, indem wir unseren eigenen Bewusstseinszustand auf radikale Weise transformieren. Wenn man von der Hirnforschung auf die Ebene der Philosophie fortschreitet, ist dies vielleicht die wichtigste Einsicht.
Vielleicht können uns Metaphern helfen. Metaphorisch könnte man den Hauptgedanken dieses Buchs vielleicht so ausdrücken, dass Sie – der Organismus als Ganzer – sich selbst während des Lesens der letzten Abschnitte ständig mit dem Inhalt des Selbstmodells verwechselt haben, das gegenwärtig durch Ihr Gehirn aktiviert wird. Während aber das Ego nur eine Erscheinung ist, könnte es falsch sein, zu sagen, dass es eine Illusion ist, denn Metaphern sind immer sehr begrenzt. All dies geschieht auf einer sehr grundlegenden Ebene in unseren Gehirnen (Philosophen nennen diese Ebeneder Informationsverarbeitung »subpersonal«, Informatiker nennen sie »subsymbolisch«). Auf dieser fundamentalen Ebene, auf der die Bedingungen der Möglichkeit, etwas zu erkennen, gebildet werden, existieren Wahrheit und Falschheit noch nicht, und es gibt auch keine Entität, die die Illusion eines Selbst haben könnte. In diesem ständig ablaufenden Vorgang auf der subpersonalen Ebene gibt es keinen Handelnden – keinen bösen Dämon, der als Schöpfer einer Illusion zählen könnte. Und genauso wenig gibt es eine Entität, die als Subjekt der Illusion gelten könnte. Da ist niemand innerhalb des Systems, der sich irren oder sich mit irgendetwas verwechseln könnte – den homunculus gibt es nicht. Wir haben nur die dynamische Selbstorganisation einer neuen zusammenhängenden Struktur – nämlich des transparenten Selbstmodells im Gehirn –, und genau das bedeutet es, gleichzeitig niemand und eine Ego-Maschine zu sein. Zusammenfassend kann man sagen, dass sowohl auf der Beschreibungsebene der Phänomenologie als auch auf jener der Neurobiologie das bewusste Selbst weder eine Form von Wissen noch eine Illusion ist. Es ist einfach das, was es ist.
Ein neues Bild von Homo sapiens
Es ist nicht zu übersehen, dass momentan sowohl in der Naturwissenschaft als auch in der Philosophie ein neues Bild des Menschen im Entstehen begriffen ist. Dieser Prozess wird nicht nur durch die Molekulargenetik und die Evolutionstheorie angetrieben, sondern auch durch die kognitive Neurowissenschaft des Bewusstseins und die moderne Philosophie des Geistes. An diesem kritischen Übergangspunkt kommt es darauf an, die deskriptiven und normativen Aspekte der Anthropologie, der Theorie darüber, was der Mensch ist, nicht miteinander zu vermischen. Wir müssen zwei grundverschiedene Fragen sorgfältig unterscheiden: Was ist der Mensch? Und: Wie sollte der Mensch in der Zukunft sein?
Offensichtlich war der evolutionäre Vorgang, der unsere Körper, unsere Gehirne und unseren bewussten Geist erschaffen hat, keinezielgerichtete Kette von Ereignissen. Wir sind Genkopierer mit der Fähigkeit, bewusste Selbstmodelle zu entwickeln und große Gesellschaften zu bilden. Wir sind darüber hinaus in der Lage, kulturelle Umgebungen von phantastischer Komplexität zu erzeugen, die ihrerseits unsere Selbstmodelle vom Moment der Geburt an formen und ihnen ständig neue Schichten und Inhalte hinzufügen. Wir haben die Philosophie hervorgebracht, die Wissenschaft, eine eigene Ideengeschichte. Aber es gab keine Absicht hinter diesem Gesamtvorgang – er ist das Ergebnis blinder, aufwärtsgerichteter Selbstorganisation. Es stimmt: Wir haben das bewusste Erlebnis der Willensfreiheit, und jedes Mal, wenn wir uns mit Philosophie, Wissenschaft oder anderen kulturellen Aktivitäten beschäftigen, erleben wir
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