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Der Ego-Tunnel

Der Ego-Tunnel

Titel: Der Ego-Tunnel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Metzinger
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uns selbst als absichtlich Handelnde. Aber nun scheint uns die kognitive Neurowissenschaft zu sagen, dass genau dieses Engagement möglicherweise selbst das Produkt eines selbstlosen, Ich-freien Bottom-up -Vorgangs ist, der in unseren Gehirnen seinen Anfang nimmt. Was all dies am Ende wirklich bedeutet, ist derzeit noch offen.
    Gleichzeitig jedoch geschieht etwas Neues: Bewusste Ego-Maschinen haben damit begonnen, ihr Wissen auf systematische und methodisch strenge Weise kontinuierlich zu erweitern, indem sie Wissenschaftlergemeinschaften bilden. Schritt für Schritt enthüllen sie die Geheimnisse des Geistes. Seine Tiefenstruktur tritt hervor. Der Lebensvorgang selbst spiegelt sich zunehmend auf eine neue Weise in den bewussten Selbstmodellen von Millionen jener Systeme, die durch ihn geschaffen wurden. Außerdem vertieft sich gleichzeitig die Einsicht in die Bedingungen, welche all dies möglich gemacht haben. Dieser Prozess der Wissenserweiterung verändert den Inhalt unserer Selbstmodelle – und zwar sowohl den unserer inneren als auch den ihrer externalisierten Versionen in Wissenschaft, Philosophie und Kultur. Die Wissenschaft erobert den Ego-Tunnel.
    Das nun hervortretende Bild von Homo sapiens ist das einer Spezies, deren Mitglieder sich einst nach dem Besitz einer unsterblichen Seele sehnten, jetzt aber langsam erkennen, dass sie selbstlose Ego-Maschinen sind. Der biologische Imperativ, wonach wir unter allen Umständen überleben müssen – ja, in der Tat ewig lebensollten –, wurde im Verlauf von Jahrtausenden in unsere Gehirne eingebrannt, in unser emotionales Selbstmodell. Nun aber sagen uns unsere brandneuen kognitiven Selbstmodelle, dass alle Versuche, sich diesem Imperativ zu unterwerfen, am Ende vergeblich sein werden. Für Wesen wie uns ist Sterblichkeit nicht einfach nur eine objektive Tatsache, sondern ein subjektiver Abgrund, eine offene Wunde in unserem phänomenalen Selbstmodell. Wir haben einen tiefen, in uns selbst eingebauten existenziellen Konflikt, und wir scheinen die ersten Lebewesen auf diesem Planeten zu sein, die diese Tatsache bewusst erleben. Viele von uns verbringen einen großen Teil des Lebens damit, Wege zu finden, die Kränkung nicht bewusst erleben zu müssen. Vielleicht ist es auch diese Eigenschaft unseres Selbstmodells, die uns zu ihrem innersten Wesen nach religiösen Tieren macht: Wir sind dieser Vorgang des andauernden Versuchs, wieder heil zu werden, ganz zu sein, das, was wir wissen, in Einklang zu bringen mit dem, von dem wir fühlen, dass es auf keinen Fall wahr sein darf. In diesem Sinne ist das Ego die Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Im innersten Kern ist das Ego ein System, das der eigenen Existenz einen fast unendlichen Wert beimisst, und die bewusste Einsicht in die eigene Sterblichkeit verletzt dieses Selbstwertgefühl – wobei ein klassischer Gedanke natürlich ist, dass viele unserer kulturellen Aktivitäten letztlich dadurch motiviert sind, dieses Selbstwertgefühl wieder zu erhöhen. In vieler Hinsicht ist das Ego Ergebnis des permanenten Versuchs, seine eigene Kohärenz und die des Organismus, der es beherbergt, aufrechtzuerhalten. Aus genau diesem Zusammenhang entsteht für Wesen wie uns die ständige Versuchung, intellektuelle Redlichkeit zugunsten schöner Gefühle und Seelenfrieden zu opfern.
    Das Ego ist auch als ein Werkzeug der sozialen Kognition evolviert, und einer seiner größten funktionalen Vorteile bestand darin, dass es uns erlaubte, die geistigen Inhalte anderer Tiere oder Artgenossen zu erkennen – um dann in der Lage zu sein, diese zu täuschen. Oder auch uns selbst. Weil sich unser eingebautes existenzielles Bedürfnis nach vollständiger emotionaler und physischer Sicherheit niemals ganz befriedigen lässt, haben wir einen starken Hang zuWahnvorstellungen und bizarren Glaubenssystemen. Die psychologische Evolution hat uns mit dem fast unwiderstehlichen Drang versehen, unser emotionales Bedürfnis nach Stabilität, Geborgenheit und einem tiefen Erleben von Bedeutung zu befriedigen, indem wir metaphysische Welten und unsichtbare Personen erschaffen. 1 Während man Spiritualität definieren könnte als das Sehen dessen, was ist – also als das Loslassen der ständigen Suche nach gefühlsmäßiger Sicherheit –, lässt sich religiöser Glaube als ein Versuch verstehen, sich weiter an dieser Suche festzuklammern und den Ego-Tunnel vollständig umzugestalten. In diesem Sinne ist Glaube etwas zutiefst Unspirituelles. Der religiöse

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