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Der Ego-Tunnel

Der Ego-Tunnel

Titel: Der Ego-Tunnel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Metzinger
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sollen wir mit diesem Gehirn leben? Welche Bewusstseinszustände sind heilsam und nützen uns, welche sind schädlich? Wie werden wir diese neue Sichtweise in unsere Kultur und unsere Gesellschaft integrieren? Was sind die wahrscheinlichen Folgen eines Zusammenpralls verschiedener Menschenbilder, des sich verschärfenden Wettbewerbs zwischen den alten und den neuen Bildern des Menschen?
    Jetzt beginnen wir zu verstehen, warum eine rationale Neuroanthropologie so wichtig ist: Wir brauchen eine empirisch plausible Plattform für die ethischen Debatten der Zukunft. Ich habe schon einmal betont, wie wichtig es ist, die folgenden beiden Fragen klar voneinander zu trennen. Was ist der Mensch? Und: Was sollte aus dem Menschen in Zukunft werden?
    Betrachten wir ein einfaches Beispiel. In der jüngeren Vergangenheit westlicher Länder war die Religion eine Privatangelegenheit: Man glaubte, woran immer man glauben wollte. In der Zukunft jedoch könnten Leute, die immer noch an die Existenz einer Seele oder an ein Leben nach dem Tod glauben, nicht mehr auf die Toleranz der westlichen Kultur des 20. Jahrhunderts treffen, sondern zunehmend auf eine eher herablassende Haltung – ähnlich wie Leute, die immer noch im Ernst daran glauben, dass sich die Sonne um die Erde dreht. Es könnte immer schwerer werden, unser Bewusstsein als Projektionsfläche für die eigenen metaphysischen Hoffnungen und Bedürfnisse zu benutzen. Der Soziologe und politische ÖkonomMax Weber hat die berühmte Formel von der »Entzauberung der Welt« geprägt, die sich darauf bezog, wie Europa und Amerika sich in einem fortschreitenden Vorgang der Rationalisierung und Verwissenschaftlichung in die moderne Industriegesellschaft verwandelten und dabei die Religion und alle »magischen« und »zauberhaften« Theorien über die Wirklichkeit zurückdrängten. Was wir jetzt erleben, ist die Entzauberung des Selbst. Was könnten die sozialen Kosten dieses Vorgangs sein?
    Eine der vielen Gefahren in diesem Prozess ist, dass, wenn wir den Zauber aus unserem Bild von uns selbst entfernen, dieser auch aus dem Bild unserer Mitmenschen verschwinden könnte. Wir könnten uns gegenseitig entzaubern. Das allgemeine Bild des Menschen beeinflusst subtil, aber sehr wirksam unsere Lebenswelt und unsere Kultur; es bestimmt nicht nur die Alltagspraxis und die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, sondern auch, wie wir uns subjektiv selbst erleben. Jeder – ob nun gläubig oder nicht – wird zugeben müssen, dass in den westlichen Gesellschaften das jüdisch-christliche Bild des Menschen im Alltagsleben immer so etwas wie einen minimalen moralischen Konsens sichergestellt hat. Über Jahrhunderte hinweg war es ein wesentlicher Faktor für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Wie der Bremer Hirnforscher und Philosoph Hans Flohr treffend bemerkt hat, wird dem Menschen gewissermaßen die göttliche Wurzel abgeschnitten. Nachdem die Neurowissenschaften nun das jüdisch-christliche Bild vom Menschen als einem Wesen mit einem unsterblichen Funken des Göttlichen unwiderruflich aufgelöst haben, beginnen wir zu erkennen, dass sie nichts anzubieten haben, was das entstandene Vakuum füllen, die Gesellschaft zusammenhalten und eine gemeinsame Grundlage für moralische Intuitionen und Werte liefern könnte. Dies ist auch nicht ihre Aufgabe. Trotzdem sehen wir, dass der Erkenntnisfortschritt in der Hirnforschung eine anthropologische und ethische Leere hinterlässt.
    Dies ist eine gefährliche Situation. Ein mögliches Szenario besteht darin, dass sich ein vulgärer Materialismus in der Gesellschaft ausbreiten könnte, lange bevor die Hirnforscher und Philosophen zueiner befriedigenden Antwort auf irgendeine der großen Fragen gekommen sind – etwa nach dem Wesen des Selbst, der Willensfreiheit, der Beziehung zwischen Geist und Gehirn oder was genau eine Person zu einer Person macht. Mehr und mehr Menschen könnten sich insgeheim sagen: »Ich verstehe nicht, worüber all diese Experten aus der Hirnforschung und diese seltsamen Bewusstseinsphilosophen reden, aber das Endergebnis scheint ziemlich klar zu sein. Die Katze ist längst aus dem Sack: Wir sind Genkopierer, Bioroboter, die im Verlauf der Evolution auf einem einsamen Planeten in einem kalten und leeren physikalischen Universum entstanden sind. Wir haben ein Gehirn, aber keine unsterbliche Seele, und nach rund siebzig Jahren fällt der Vorhang. Es wird kein Leben nach dem Tod geben, keine Strafe und keine Belohnung, keine

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