Der Ego-Tunnel
Glaube ist ein Versuch, unser Leben mit einer tieferen Bedeutung zu versehen und es in einen positiven Metakontext einzubetten – es ist der zutiefst menschliche Versuch, sich endlich zu Hause zu fühlen. Es ist eine Strategie, um die hedonische Tretmühle zu überlisten. Auf der Ebene des Individuums scheint es einer der erfolgreichsten Wege zum vorübergehenden Erreichen eines stabilen Zustands zu sein – mindestens genauso gut oder noch besser als jede Droge, die die Menschheit bislang entdeckt hat. Jetzt sieht es so aus, als ob die Wissenschaft uns all dies wegnimmt. Die dadurch entstehende Leere könnte einer der Gründe für das gegenwärtige Anwachsen des religiösen Fundamentalismus auch in säkularen Gesellschaften sein.
Ja, es ist richtig, dass das Selbstmodell uns intelligent gemacht hat, aber es ist mit Sicherheit kein Beispiel für intelligentes Design. Es ist die Wurzel subjektiven Leidens. Wenn der Vorgang, der die biologische Ego-Maschine erschaffen hat, durch so etwas wie eine Person eingeleitet worden wäre, dann müsste man diese Person wohl als grausam, ja vielleicht sogar als teuflisch beschreiben. Alles sieht danach aus, dass wir niemals gefragt worden sind, ob wir existieren wollen, und wir werden auch niemals gefragt werden, ob wir sterben wollen oder ob wir bereit dazu sind. Insbesondere sind wir niemals gefragt worden, ob wir mit dieser Kombination von Genen und dieser Art von Körper leben wollen. Und schließlich sind wir ganz gewiss niemals gefragt worden, ob wir mit dieser Art von Gehirn einschließlich dieser ganz speziellen Art von Bewusstsein leben wollen. Eigentlichwäre es höchste Zeit für eine Rebellion. Doch alles, was wir bis jetzt wissen, deutet auf eine Schlussfolgerung hin, die einfach, aber für Wesen mit unserer geistigen Struktur nur schwer anzunehmen ist: Die Evolution ist einfach passiert – ohne Vorausschau in die Zukunft, zufällig, ohne Plan, ohne Richtung und ohne Ziel. Es gibt niemanden, den man verachten oder gegen den man rebellieren könnte – noch nicht einmal uns selbst. Was viele jedoch nicht erkennen, ist, dass genau dies keine bizarre Form von neurophilosophischem Nihilismus ist, sondern in Wirklichkeit ein Punkt, der mit intellektueller Redlichkeit zu tun hat und eine große spirituelle Tiefe besitzt.
Eines der wichtigsten zukünftigen Ziele für die Philosophie wird darin bestehen, eine neue und umfassende Anthropologie aufzubauen – ein Bild des Menschen, das die neuen Erkenntnisse, die wir über uns selbst gewonnen haben, zu einem größeren Ganzen zusammenfügt. Eine solche Synthese müsste eine Reihe von Bedingungen erfüllen. Sie muss begrifflich kohärent und frei von logischen Widersprüchen sein. Sie sollte durch die ehrliche Absicht motiviert sein, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Sie muss für Korrekturen offen bleiben und in der Lage sein, in einem Vorgang der ständigen Aktualisierung neue Erkenntnisse aus der kognitiven Neurowissenschaft und verwandten Disziplinen in sich aufzunehmen. Vor allem jedoch muss sie uns ein Fundament liefern und eine rationale Basis für normative Entscheidungen schaffen – Entscheidungen darüber, wie wir in der Zukunft sein wollen. Ich bin mir sicher, dass eine philosophisch motivierte Neuroanthropologie im Verlauf dieses Jahrhunderts zu einem der wichtigsten neuen Forschungsgebiete werden wird.
Die dritte Phase der Revolution
In der ersten Phase der Bewusstseinsrevolution geht es darum, das bewusste Erleben als solches zu verstehen, um das, was ich den »Tunnel« genannt habe. Sie ist bereits seit einiger Zeit im Gange und liefert die ersten Ergebnisse. Die zweite Phase wird zum Kern des Problems vordringen, indem sie schrittweise das Rätsel der Erste-Person-Perspektivelöst und dabei die tiefere Natur dessen enthüllt, was ich das »Ego« genannt habe. Diese Phase hat bereits begonnen, wie man deutlich an der aktuellen Flut von wissenschaftlichen Aufsätzen und Büchern über Agentivität, Willensfreiheit, Emotionen, Einfühlung, soziale Kognition ( mind-reading ) und Selbstbewusstsein im Allgemeinen ablesen kann.
Die dritte Phase wird uns unweigerlich in die normative Dimension dieses historischen Übergangs zurückführen – in die Anthropologie, die Ethik und die politische Philosophie. Sie wird uns mit einer Vielzahl neuer Fragen darüber konfrontieren, was wir mit all diesem neuen Wissen über uns selbst tun und wie wir mit den neuen Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, umgehen wollen. Wie
Weitere Kostenlose Bücher