Der einaeugige Henker
warten würde, aber das ist wohl nicht der Fall.«
»Er wird bestimmt noch kommen.«
»Ja, das glaube ich auch.« Ich lächelte wieder. »Was hat er Ihnen denn gesagt?«
»Nicht viel. Er hat mich gerettet. Ich wäre sonst wahrscheinlich tot. Ich bin ihm dankbar, deshalb bin ich auch hier. Und er muss doch kommen.«
»Das wird er auch.«
»Aber wie kann er uns erreichen?« Die junge Frau war ein wenig durcheinander. Sie konnte nicht ruhig auf der Stelle bleiben und drehte sich immer wieder um.
Sören Pfeiffer stand nur neben ihr und tat nichts. Bei ihm fiel besonders sein rotes Haar auf.
Aber Reni Long hatte die Zeit gebraucht, um nachzudenken.
»Ich weiß es jetzt«, sagte sie. »Ja, ich kann es mir denken. Es kann nur so sein.«
»Und wie?«, fragte ich.
»Das ist ganz einfach. Wer mehr über ihn wissen will, der muss sich mit dem Spiegel beschäftigen, von dem Sie mir erzählt haben. Er ist doch wichtig, oder?«
Ich nickte. »Ja, das ist er.«
»Toll.« Sie kam näher auf mich zu. »Jetzt müssen wir nur noch den Spiegel haben. Und ich glaube, dass Sie wissen, wo er sich befindet.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Weil Sie ein besonderer Mann sind. Wäre es anders, Sie hätten sich bestimmt nicht um den Spiegel gekümmert.«
»Das wäre möglich.«
»Und was ist möglich, Mister Sinclair?«
»Dass ich über den Spiegel Bescheid weiß.« Ich wollte sie nicht mehr länger hinhalten und sah, dass sie erleichtert aufatmete.
»Wo ist er denn jetzt?«
»Sie werden ihn bald zu sehen bekommen. Aber zuvor muss ich Ihnen noch etwas sagen.«
»Ist es schlimm?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht genau, aber richten Sie sich darauf ein, dass Sie den Spiegel nicht mehr so sehen, wie ich ihn Ihnen beschrieben habe.«
Sie wollte noch etwas fragen, hatte den Mund bereits geöffnet und sagte dann doch nichts. Aus ihrem Mund drang nur ein scharfer Atemzug.
Ich drehte ihr den Rücken zu, als ich die Heckklappe des Rover öffnete und mich in den Wagen beugte. Ob ich richtig gehandelt hatte, wusste ich nicht. Vielleicht hätte ich den Spiegel ganz lassen sollen.
Ich zog den Spiegel aus dem Auto und stellte ihn dann senkrecht hin, wobei ich die Rückseite gegen den Wagen lehnte.
Dann trat ich zur Seite, um Reni Long einen Blick auf den Spiegel zu gönnen.
Sie schaute ihn an.
Es war die Sekunde der Wahrheit. Ich sah, dass sich ihr Gesicht verzog, und rechnete mit gellenden Schreien, die die Stille auf dem Parkplatz zerstörten …
***
Die Schreie gab es nicht. Reni Long hatte sich in der Gewalt und hielt sich auch weiterhin unter Kontrolle.
Nur ihr Begleiter musste etwas fragen. »Ist das der Spiegel, den Sie gemeint haben?«
»Ja.«
»Aber der ist doch kaputt.«
»Das sehe ich.«
Für einen Moment schloss Reni Long die Augen. Dabei schüttelte sie den Kopf. »Der Spiegel muss doch sein Weg in unsere Welt gewesen sein. Wie – wie konnten Sie ihn dann zerstören?«
»Ja, er war sein Weg, das stimmt. Aber ich kann Ihnen auch sagen, dass es kein guter Weg war.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich weiß es eben. Der Henker kommt aus einer Welt, die wir nicht begreifen können. Sie gehört zu einem anderen Reich und …«
Reni unterbrach mich. »Was heißt das?«
»Zum Reich der Dämonen, der Geister, der sehr gefährlichen Geschöpfe, die alle keine Menschenfreunde sind. Haben Sie das jetzt kapiert, Reni?«
»Ich habe es gehört. Aber ich denke anders. Sie haben den Spiegel zerstört, wie auch immer. Der Einäugige hat keine Heimat mehr. Sie haben das Tor zu seiner Heimat verschlossen …«
»Er gehört nicht zu uns.«
»Aber zu mir!«, brüllte sie mich an.
»Nein, auch nicht zu Ihnen!«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Ich weiß es eben, ich habe da meine Erfahrungen, lassen Sie sich das gesagt sein.«
Das wollte sie nicht so einfach hinnehmen. »Erfahrungen? Nein, das nehme ich Ihnen nicht ab. Die habe ich, denn mein Leben hat er gerettet.«
»Ja, das sahen wir.«
»Aha. Und weiter?«
»Ich habe gesehen, wie gnadenlos er tötete.«
»Das musste sein.«
»Gut, Sie sehen das so. Aber ich kann Ihnen sagen, dass er jemand ist, der nicht in unsere Welt gehört. Wahrscheinlich ist er ein Verfluchter, der einen falschen Weg eingeschlagen hat. Sie sind ein Mensch, und als Mensch sollte man sich nicht mit solchen Geschöpfen abgeben.«
Reni schüttelte den Kopf. »Das ist mir alles egal. Ich lebe, und ich lebe durch ihn. Ich will auch nichts weiter mehr hören. Ich bin ihm dankbar, und ich habe damit
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