Die Sache mit Callie und Kayden
Prolog
Callie
So vieles im Leben ist Glückssache: welches Blatt einem ausgeteilt wird, ob man zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist. Manche Leute haben Glück, bekommen eine zweite Chance, bleiben unbeschädigt. Entweder sind sie heldenhaft, oder es ist purer Zufall. Und dann gibt es die, denen das Glück nicht auf einem Silbertablett serviert wird, die zur falschen Zeit am falschen Ort sind, die nicht gerettet werden.
»Callie, hörst du mir überhaupt zu?«, fragt meine Mom, als sie den Wagen in der Einfahrt anhält.
Ich antworte nicht, weil ich dem Laub zusehe, das vom Wind über den Rasen geweht wird, über die Kühlerhaube, wild durch die Luft. Die Blätter bestimmen nicht, welche Richtung ihr Leben nimmt. Ich will hinspringen, sie alle einsammeln und festhalten, aber dafür müsste ich aus dem Wagen steigen.
»Was ist denn heute Abend mit dir los?«, fragt meine Mom gereizt, während sie die Nachrichten auf ihrem Handy durchsieht. »Geh rein, und hol deinen Bruder.«
Ich sehe von den Blättern zu ihr. »Muss ich wirklich, Mom?« Mit meiner verschwitzten Hand fasse ich nach dem Metalltürgriff, und ein riesiger Kloß steigt mir in den Hals. »Kannst du nicht schnell gehen?«
»Oh nein, ich will ganz sicher nicht in eine Party voller Highschool-Teenies platzen, und noch viel weniger Lust habe ich, mit Maci zu reden. Die will doch nur wieder damit angeben, dass Kayden ein Stipendium bekommen hat«, antwortet meine Mutter und bedeutet mir mit ihrer manikürten Hand, dass ich aussteigen soll. »Jetzt geh schon, und sag deinem Bruder, dass wir fahren.«
Ich ziehe den Kopf ein, als ich die Tür aufstoße und den Kiesweg hinauf zur zweigeschossigen Villa mit den grünen Fensterläden und dem spitzen Giebeldach laufe. »Zwei Tage noch. Noch zwei Tage«, murmle ich vor mich hin und dränge mich mit geballten Fäusten zwischen den parkenden Wagen durch. »Nur noch zwei Tage, dann bin ich im College, und das alles hier ist völlig egal.«
Unter dem grauen Himmel wirken die Lichter in den Fenstern gelblich. Auf der Veranda hängt ein »Glückwunsch«-Banner, und das Geländer ist mit Luftballons geschmückt. Die Owens machen gerne viel Theater um alles Mögliche – Geburtstage, Feiertage, Abschlüsse. Sie scheinen die perfekte Familie zu sein; aber ich glaube nicht, dass es etwas Perfektes gibt.
Mit der Party heute feiern sie den Abschluss von Kayden, dem jüngsten Sohn, und sein Football-Stipendium für die University of Wyoming. Ich habe nichts gegen die Owens. Meine Familie war schon ab und zu bei ihnen zum Essen eingeladen und sie hin und wieder bei uns zum Grillen. Was ich nicht mag, sind Partys, und ich war auch zu keiner mehr eingeladen, jedenfalls nicht seit der sechsten Klasse.
Als ich fast auf der Veranda bin, kommt Daisy Miller mit einem Glas in der Hand herausgetänzelt. Ihre blonden Locken schimmern im Verandalicht. Kaum sieht sie mich, verziehen sich ihre Lippen zu einem boshaften Grinsen.
Ich weiche vor der Treppe nach rechts aus und laufe zur Hausseite, ehe Daisy mich wie immer beleidigen kann. Die Sonne versinkt bereits hinter den Bergen, von denen die Stadt eingerahmt ist, und Sterne glitzern am Himmel wie funkelnde Libellen. Hier ist es dunkel, und ich stoße mit einem Fuß gegen etwas Scharfkantiges. Ich falle hin und schürfe mir die Handflächen am Kies auf. Äußerliche Wunden sind leicht zu verkraften, und ich stehe sofort wieder auf.
Ich klopfe mir die Steinchen von den Händen, verziehe das Gesicht, weil die Kratzer brennen, und laufe weiter nach hinten in den Garten.
»Mir ist scheißegal, was du versucht hast«, ertönt eine schneidende Männerstimme aus der Dunkelheit. »Du bist so ein Versager! So eine beschissene Enttäuschung!«
Ich bleibe am Rasenrand stehen. Hinten am Zaun ist ein gemauertes Pool-Haus, und dort stehen zwei Gestalten unter einem dämmrigen Außenlicht. Die eine ist größer, hat den Kopf gesenkt und die Schultern vorgebeugt. Die kleinere Gestalt hat einen Bierbauch und eine kahle Stelle am Hinterkopf; sie steht der anderen mit erhobenen Fäusten gegenüber. Blinzelnd erkenne ich, dass der Kleinere von beiden Mr. Owens ist und der Größere sein Sohn Kayden. Die Szene erstaunt mich, denn in der Schule ist er sehr selbstsicher, und keiner würde es wagen, ihn anzugreifen.
»Tut mir leid«, sagt Kayden leise. Seine Stimme zittert, und er hält sich eine Hand an die Brust. »Es war ein Unfall, Sir. Es wird nicht wieder vorkommen.«
Ich sehe zur Hintertür, wo
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