Der einsame Baum - Covenant 05
Mut einzuflößen oder ihre Hoffnung zu erneuern. Sie hockten an der Reling, während die schwärzliche See sich fast senkrecht unter ihnen vorüberwühlte, und warteten wie Männer und Frauen, die man zum Tode verurteilt hatte. Doch Blankehans ließ sie nicht im Stich. »Ho, Pechnase!« brüllte er, als sein Geulke und Witzereißen keinen Erfolg mehr zeigte. »Der Schwermut dieser Riesen ist mir ein Greuel! In kommenden Zeiten werden sie, da man von ihnen eine solche Geschichte erzählt, beschämt die Häupter senken! Sing uns ein Lied, das unsere Herzen erhebt, auf daß wir uns drauf besinnen mögen, wer wir sind!«
»Wohlan, Pechnase«, hörte Linden irgendwo nahbei die Erste sarkastisch murmeln, »sing ihnen ein Lied! Wenn solche, die heil sind, zu verzagen drohen, müssen jene, die lahm sind, ihnen Kraft spenden.«
Anscheinend jedoch hörte Pechnase sie nicht. »Meister!« erwiderte er Blankehans mit wie besessenem Lachen. »Schon seit einer ganzen Weile denke ich über ein solches Lied nach. Es kann nicht zum Schweigen gezwungen werden, dieweil's in meinem Herzen schwillt, zu groß sogar für eines Riesen Brust wird! Schaut!« Unstet taumelte er hoch und ließ sich übers Deck rutschen; als er gegen die erste Rettungsleine fiel, vibrierte sie unterm Anprall seines Gewichts vernehmlich, hielt jedoch. Halb an die Leine gelehnt, wandte Pechnase sich aufwärts. »Es wird mir eine Freude sein, euch eine Weise zu singen!« Von den Laternen geworfene Schatten verzerrten sein mißgestaltetes Gesicht zu einer Grimasse. Sein Grinsen jedoch war unübersehbar; und als er weitersprach, minderte sich das Gekünstelte seines Optimismus. »Ich werde jenes Lied singen, das Bahgoon sang, nachdem seine Braut, das von vielen Geschichten umrankte, einstige Vielliebchen Thelma Zweifaust, die alte Vettel, ihn gezähmt hatte!« Kraft der ihm eigenen Heiterkeit entlockte er den bedrückten Riesen da und dort schwächliche Jubelrufe und ein paar schlagfertige Entgegnungen. Indem er eine Pose übertriebener Melancholie einnahm, fing er an zu singen. Strenggenommen war das, was er vortrug, gar kein Gesang; einer Singstimme konnte er kein Gehör verschaffen. Er bot die Verse in hohem, rhythmischem Geschrei dar, das unter den gegenwärtigen Umständen auf seine Zuhörer einen einigermaßen gesangsähnlichen Eindruck machte.
»Meine Geliebte, die hat Äuglein ganz ohne Glanz,
Ihre Reize sind ein wenig seltsam,
An Makeln gibt's zu zählen sattsam,
Und schief steht in ihrem Schmollmund der Zähne Kranz.
Rauher als meine sind ihre Glieder,
Was ich nicht geben mag, nimmt sie mit Erfrechen,
Ihr Haar kämmt' man besser mit Harke und Rechen.
Ihre Küsse schmecken, als küßt' dich ein Seifensieder.
Gar übel wird mir von ihrem Geruch.
Geistlos ihre Rede, noch ist sie gescheit.
Wär's wohlgeschnitten, stünd' ihr das Kleid.
Gedenkt meiner mit Dauern: Ich liebe sie doch!«
Das Lied war offenbar länger; Lindens Aufmerksamkeit schweifte jedoch bereits nach wenigen Augenblicken ab. Sie merkte, daß die Erste gedämpft mit sich selbst sprach, sich eindeutig darüber im unklaren, daß jemand sie hören konnte. »Das ist's, wofür ich dich liebe, Pechnase«, sagte sie leise in den Wind und die Nacht. »Fürwahr, das ist ein Geschenk, welches die Herzen erhebt. Mit Scham erfüllt's mich, mein Gemahl, daß ich den schönen Zügen, die du hast, nicht gleich bin.«
Auf eine positive Weise, so hatte es den Anschein, bereitete der verkrüppelte Riese der gesamten Mannschaft ein Schamgefühl. Um hinter seinem Beispiel nicht zurückzustehen, rissen die Matrosen sich aus ihrer trostlosen Stimmung, achteten einer wieder auf den anderen, als wären sie dem Leben wiedergegeben worden. Einige lachten; andere strafften ihre Rücken, festigten ihren Griff an der Reling, als könnten sie dadurch das Lied besser hören. Unwillkürlich raffte sich mit ihnen auch Linden auf. Die wieder lebhafteren Emanationen der Riesen drängten sie dazu, einen Teil ihrer Abgeschlafftheit abzuschütteln.
Im gleichen Moment begannen ihre Sinne gewissermaßen auf sie einzuschreien. Jenseits der Besserung in der Gemütsverfassung der Riesen hatte sie ein Gefühl der Gefahr. Etwas näherte sich dem Riesen-Schiff – etwas, das verhängnisvoll bedrohlich war und voller Bosheit stak. Es stand in keinem Zusammenhang mit dem Sturm; dem Unwetter haftete keine Schlechtigkeit an. Dem jedoch, das sich nahte, sehr wohl. »Auserwählte?« fragte Cail.
»Rühr mich nicht
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