Der einsame Baum - Covenant 05
einen Moment erfaßte ihn der Wind, drohte ihn in hohem Bogen in die See zu schleudern. Aber dank seines Körpergewichts und der Kraft, die er in seinen Satz gelegt hatte, blieb er auf dem Dach. Er geriet hinter der Dachkante aus Lindens Blickfeld. Dann gelangte er wieder in Sicht, als er sich am Großmast aufrichtete. Er trug Covenant auf den Schultern.
Trotz des erschreckenden Risikos, das er einging, verspürte Linden eine gewisse Ermutigung. Vielleicht bildete die Wand des Aufbaus für die Aale ein unüberwindbares Hindernis. Doch die Geschöpfe hatten sich nicht von der steilen Schräge des Decks abschrecken lassen; und nun begannen sie sich auch an der Seite des Speiseraums hochzuwinden, hefteten sich dabei mit ihren Bäuchen an den glatten Stein. Indem ihr Glühen sich aufwärtsbewegte, schimmerte es zusehends mehr zwischen Linden und der Dunkelheit im Umkreis des Masts, entzog Seeträumer und Covenant erneut ihrer Sicht.
Auf Blankehans' Befehl begannen mehrere Riesen gegen die Aale einzuschreiten. Sie bekämpften sie, indem sie Stücke von Trossen wie Geißeln verwendeten – und hatten einen gewissen Erfolg. Die energetischen Entladungen der Aale verpufften, wenn sie die Trossen verbrannten, ohne auf die Fäuste der Riesen überzuspringen. Die kraftvollen Hiebe der Matrosen töteten viele Aale. Aber die Tiere waren zu zahlreich, und der ständige Bedarf an neuen Trossen verlangsamte ihre Bekämpfung durch die Riesen. Es gelang ihnen nicht, zum Wohlspeishaus vorzudringen oder zu verhindern, daß Aale zuhauf dessen Wand erklommen. Und ununterbrochen schoben sich aus dem Meer weitere Aale aufs Deck. Binnen kurzem mußte Seeträumer endgültig in der Falle sitzen. Schon schlängelten sich Aale übers Dach.
Ihr Instinkt und der Ernst der Situation drängten Linden zum Handeln. In einem plötzlichen Erinnerungsbild sah sie Covenant, eine kühne, attraktive Erscheinung, mitten in dem Caamora stehen, das er den Toten Herzeleids bereitet hatte, durch wilde Magie vor dem Feuer geschützt. Feuer gegen Feuer. Auf Cail gestützt, bemächtigte sich Linden der Laterne, die über ihrem Kopf an der Reling baumelte. Trotz ihrer durch die Kälte bedingten Schwäche und der mangelhaften Balance vollführte sie eine Drehung und schleuderte die Laterne hinüber zum Wohlspeishaus. Sie verfehlte die von rotem Glosen erhellte Wand knapp; aber als sie auf das Deck schlug, zerbrach sie, und Öl ergoß sich rundum über die Aale. Augenblicklich gingen sie in Flammen auf. Ihre eigene Energie verwandelte sich in Feuer, das sie verzehrte. In konvulsivischen Todeszuckungen rutschten sie zurück ins Wasser und verzischten ihr Leben in den dunklen Fluten. Linden wollte etwas rufen; aber Blankehans war schneller. »Öl!« brüllte er. »Holt mehr Öl!« Unverzüglich hasteten Ceer und zwei Riesen zu einer nahen Luke. Andere Mitglieder der Besatzung griffen nach den übrigen Laternen. Blankehans hielt sie zurück. »Wir werden noch Licht brauchen!«
Seeträumer, Covenant und Brinn waren nun im weiter vorgerückten Leuchten der Aale sichtbar. Seeträumer stand am Mast, Covenant auf den Schultern. Als die ersten aufs Dach geklommenen Aale auf ihn zueilten, wich er auf den Mast aus. Der Mastbaum war schwierig zu begehen – rund, verstärkt mit um ihn gewickelten Tauen, mit Klampfen besetzt. Dennoch erstieg er den geschrägten Mast Schritt um Schritt, den Blick auf die Aale gerichtet. Seine Augen beantworteten ihre Glut mit wahnwitziger Entschlossenheit. In ihrem greulichen Lichtschein wirkte er gewichtig und unheilvoll, als wäre er schwer genug, um die Sternfahrers Schatz vollends ins Kippen zu bringen. Zwischen ihm und den Angreifern stand Brinn. Der Haruchai folgte Seeträumer, der Gefahr zugekehrt wie der letzte Hüter über Covenants Leben. Aus der Entfernung konnte Linden sein Gesicht nicht erkennen; doch er mußte darüber Klarheit besitzen, daß der erste Schlag, den er gegen die Aale führte, auch sein letzter sein würde. Dennoch blieb er unerschrocken.
Ceer und die beiden Riesen waren noch nicht aus den Unterdecks zurück. Linden maß die Zeit an ihren abgehackten Atemzügen und glaubte, daß es bereits zu spät sei; zu viele Aale waren schon auf das Dach vorgedrungen. Und immer noch krochen mehr aus der See, als wäre ihre Zahl so unendlich wie die Bosheit, die sie vorwärtstrieb.
Unvermittelt geriet Seeträumer in die Turbulenz oberhalb des Windschattens, den der Schiffsrumpf abgab. Er taumelte, der Wind stieß ihn von den
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