Der einsame Baum - Covenant 05
sie eine der Karten an sich nahm und an Deck ging, um Derbhand über den neuen Kurs der Dromond zu unterrichten. Linden blieb mit dem Kapitän allein.
»Linden Avery ... Auserwählte.« Anscheinend war er sich nicht sicher, wie er sie anreden sollte. Ein Lächeln der Erleichterung hatte zeitweilig all seine Bedenken vertrieben. Doch nun kehrte sein Ernst fast sofort zurück. »Mit dieser Suche und der Gefahr für die Erde hat's vielerlei auf sich, das ich nicht zu begreifen vermag. Das Rätsel von meines Bruders Erd-Sicht macht mir das Herz bang. Der Wandel der Elohim ... und Findails Anwesenheit in unserer Mitte ...« Er zuckte die Achseln, hob die Hände, als wären sie voller unerfreulicher Unwissenheit. »Riesenfreund Covenant aber hat uns nicht im geringsten darüber im unklaren gelassen, daß er eine große Bürde an Blut auf sich lädt, des Blutes jener, deren Leben im Lande so verwerflich vertan wird. Und dieweil er nun seiner Sinne nicht mächtig ist, hast du's auf dich genommen, an seiner Last mitzutragen.« Launig berichtigte er sich. »Das und mehr. Du hast sie zu deiner Bürde gemacht. Wahrlich, ich habe nicht gewußt, daß du aus solchem Stein geschaffen bist.« Dann kam er wieder zur Sache. »Auserwählte, ich danke dir für deine Bereitschaft, diese Verzögerung einzugehen. Sei gedankt in Sternfahrers Schatz' Namen, die mir so lieb wie mein Leben ist und die ich sehnlichst wieder heil und ganz sehen möchte.« Unwillkürliches Beben verkrampfte seine Hände, als er sich der Schläge entsann, die er gegen den Großmast geführt hatte. »Und ebenso danke ich dir im Namen meines Bruders Ankertau Seeträumer. Es erleichtert mein Herz, daß ihm eine Frist der Ruhe für seine Seele gewährt sein soll. Wiewohl ich fürchte, daß seine Wunde nimmer heilen wird, erachte ich doch jede Handlung oder jeden Aufschub als wünschenswert, welche ihm Frieden vergönnen.«
»Blankehans ...« Linden wußte nicht, was sie ihm entgegnen sollte. Sie hatte seinen Dank nicht verdient. Und sie sah keine Lösung für das mitempfundene Leid, das ihn mit seinem Bruder verband. Während sie ihn betrachtete, kam ihr der Gedanke, daß sein Unbehagen möglicherweise weniger mit dem unvoraussehbaren Verhalten der Bhrathair zu tun hatte als mit etwaigen Folgen jeder Verzögerung für die Suche, für Seeträumer. Anscheinend bezweifelte er die Sachzwänge, die seiner Sorge um das Schiff zugrunde lagen, als würde die Lauterkeit dieser Erwägungen durch seine Besorgnis um Seeträumer eingeschränkt. Seine innere Beunruhigung hielt Linden von allem zurück, was sie zur Untermauerung ihrer Entscheidung oder in Erwiderung auf seinen Dank hätte sagen können. Statt dessen teilte sie ihm das geringe Wissen mit, das sie besaß. »Er fürchtet sich vor dem Einholzbaum. Er glaubt, daß dort etwas Schreckliches geschehen wird. Ich weiß nicht, wieso.«
Bedächtig nickte Blankehans. Er schaute sie nicht länger an. Er starrte an ihr vorbei, als sei er durch Mangel an Voraussicht blind. »Er ist nicht stumm«, sagte er mit gedämpfter, gefaßter Stimme, »weil ihm das Vermögen zum Sprechen abginge. Er ist stumm, weil der Erd-Sicht keine Worte verliehen werden können. Daß Gefahr droht, vermag er zu verdeutlichen. Aber die Gefahr hat für ihn keinen aussprechbaren Namen.«
Linden sah keine Möglichkeit, wie sie ihn trösten könnte. Leise verließ sie die Kajüte, gewährte Blankehans, da sie nichts anderes zu bieten hatte, die Stille seiner Privatsphäre.
Infolge einiger Schwierigkeiten mit unsteten Winden brauchte die Sternfahrers Schatz zwei volle Tage, um in Sichtweite von Land zu geraten; und erst am nächsten Morgen näherte sich die Dromond der Einfahrt zum Hafen von Bhrathairain.
Unterdessen ließ die Expedition die letzten Andeutungen nördlichen Herbstes hinter sich und gelangte in ein trockenes, heißes Klima, in dem alle Anzeichen nahen Winters völlig fehlten. Die pralle Sonne schien Lindens Haut auszudörren, und sie hatte dauernd Durst; und der normalerweise kühle Stein der Decks wärmte sie sogar durch die Schuhe. Im grellen Sonnenschein und gegen den Glanz der See wirkten die von Wind und Wetter verschlissenen Segel grau und fleckig. Gelegentliche Wallungen von Feuchtschwüle streiften Lindens Wange; doch sie stammten von Schäfchenwolken hoch am Himmel, die vereinzelt dahinzogen und deren Regen verdunstete, ehe sie die See oder das Schiff erreichten, so daß sie die Hitze nicht linderten.
Der erste Anblick der
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