Der einsame Baum - Covenant 05
kein Gehör mehr. Ihr war, als nähme sie aus der Ferne das Geräusch von Schritten wahr. Nach einem Weilchen war sie sicher. Drei oder vier Paar Füße näherten sich dem Kerker. Hustin – und noch jemand?
Das eherne Klirren der Tür veranlaßte die Gefährten zum Schweigen. Aus einem hellerleuchteten Korridor drang Licht in das Kerkerloch, und man sah, daß die Tür um einiges oberhalb des Fußbodens lag und mehrere hohe Stufen herabführten. Zwei Wächter, die Fackeln trugen, kamen schwerfällig heruntergestapft. Ihnen folgte Rant Absolain.
Linden erkannte den Gaddhi zunächst nur dank ihrer übersensitivierten Nerven. Sehen konnte sie ihn nicht, weil die plötzliche Helligkeit sie blendete. Sie zog den Kopf ein und versuchte, durch Blinzeln und Zwinkern die Verschwommenheit aus ihrer Sicht zu vertreiben.
Inmitten des Lichtscheins ruhte Thomas Covenant zwischen Linden und Hohl am Boden. Seine Muskeln waren allesamt schlaff; aber die Beine waren gerade ausgestreckt, die Arme lagen dicht an seinen Seiten. Offensichtlich hatte man ihn absichtlich so hingelegt. Seine Augen starrten blicklos zur Decke empor, als ob von ihm nicht mehr als die bloße Hülle eines lebenden Menschen übriggeblieben wäre. Nur das schwache Heben und Senken seines Brustkorbs zeigte an, er war nicht tat. Flecken schwärzlichen, geronnenen Bluts bedeckten sein T-Shirt wie Handabdrücke von Lindens Schuld. Unvermittelt schien der Kerker noch kälter zu werden. Im ersten Moment, in dem ihr zumute war, als müsse sie in Hysterie verfallen, vermochte sie nicht zu begreifen, was sie sah. Da war Covenant, eindeutig sichtbar – und trotzdem für die andere Dimension ihrer Sinne unerreichbar. Als Linden in Fassungslosigkeit und Furcht die Lider zusammenkniff, schien er plötzlich zu verschwinden. Ihre Wahrnehmung konnte keinerlei Beweise seiner Anwesenheit mehr ermitteln. Und doch war er hier , denn sie sah ihn, sobald sie die Augen wieder öffnete. Mit Grauen entsann sie sich daran, daß sie ein derartiges Phänomen schon einmal beobachtet hatte. Am Sohn des Wesirs. Covenant war wie das Kind geworden, das Kasreyn ständig mit sich auf dem Rücken herumtrug. Da bemerkte sie das um Covenants Hals gelegte, goldene Band. Sie konnte dessen Natur nicht ersehen, nicht herausfinden, um was es sich handelte. Aber sie war intuitiv davon überzeugt, daß das Band für das, was mit ihm geschehen war, die Erklärung sein mußte. Es war das Mittel, mit dem Kasreyn ihn im Griff behielt, und es verschloß Covenant ihrer Sinneswahrnehmung so vollständig, als wäre es speziell für diesen Zweck geschaffen worden. Um zu verhindern, daß sie in sein Inneres Einblick nehmen konnte? O Kasreyn, du Halunke!
Doch Linden bekam keine Zeit zum Nachdenken. Die Wächter hatten ihre Fackeln in Wandhalter beiderseits der Tür gesteckt, und Rant Absolain trat nun durch ihre Mitte zu den Gefährten. Mit einer energischen Willensanstrengung entzog Linden ihre Aufmerksamkeit Covenant. Als sie den Gaddhi anschaute, sah sie, daß er maßlos betrunken war; sein Gewand war mit zahlreichen dunkelroten Weinflecken verunreinigt; seine Augen wirkten wie wund von Ruhelosigkeit und Furcht. Er stierte Blankehans an. Der unaufhörliche, wütende Drang des Riesen nach Befreiung entsetzte ihn. Immer wieder wölbte Blankehans langsam und nahezu rhythmisch seine Muskeln, warf sich gegen die Ketten, ließ nicht locker. Von den Eisenbändern bis zu den Ellbogen waren seine Arme von dünnen Blutrinnsalen überzogen. Rasch nutzte Linden die Entgeisterung Rant Absolains, um ihre Gefährten zu mustern.
Trotz seines Gleichmuts bewies Ceers Blässe das Ausmaß seiner Schmerzen. Der Verband am Bein war rot, getränkt vom Blut einer wieder aufgegangenen Wunde. Pechnases Hiebverletzung war weit weniger schlimm; seine rechte Schläfe zeigte lediglich eine kräftig verfärbte Schwellung. Dann starrte Linden verdutzt hinüber zur Ersten. Ihr fehlten sowohl Schild wie auch Helm; aber in der Schwertscheide stak noch ihre neue Waffe. Der Griff befand sich knapp außerhalb der Reichweite ihrer angeketteten Hände. Man mußte es ihr gelassen haben, um sie in ihrer Hilflosigkeit doppelt zu quälen. Oder um Rant Absolain zu verhöhnen? Wollte Kasreyn dem Gaddhi wegen seines unüberlegten Geschenks einen Denkzettel erteilen? Die Erste jedoch wirkte, als stünde sie über solcher Bosheit. »O Gaddhi «, sagte sie laut, während Rant Absolain noch betroffen Blankehans anglotzte, »es ist nicht ratsam, in Gegenwart
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