Der einsame Baum - Covenant 05
befürchtete, er könne nicht noch einmal die Kraft aufbringen, sie zum Verlassen der Kabine aufzufordern. Doch dann überraschte er sie, so wie er sie schon in der Vergangenheit häufig überrascht hatte. Selbst nach all der Zeit, die sie ihn bereits kannte, war sie nicht dazu fähig, richtig einzuschätzen, wie seine Art des Denkens sich vollzog. »Du hast natürlich recht«, sagte er leise, sprach halb versonnen wie zu sich selbst. »Niemand kann einem anderen etwas ersparen. Ich habe so viel Macht ... daß ich dauernd vergesse, sie ist für das, was ich eigentlich will, gar nicht zu gebrauchen. In Wirklichkeit reicht sie nie aus. Macht ist nur eine kompliziertere Form von Hilflosigkeit. Ich müßte es besser wissen. Ich habe so etwas Ähnliches ja schon einmal mitgemacht. Ich kann dir nicht sagen, warum ausgerechnet du.« Er wirkte zu müde oder zu niedergeschlagen, um nur den Kopf zu heben. »Ich weiß ein wenig über die Nöte und Bedürfnisse, die jemanden in eine Situation wie diese bringen können. Aber ich habe keine Ahnung von deinen Nöten oder Bedürfnissen. Ich weiß nichts über dich. Du bist hierfür ausgewählt worden, weil du bist, wer du bist, aber von Anfang an hast du dich über dich ausgeschwiegen. Von dir hängt mein Leben ab, und ich habe nicht die leiseste Vorstellung, was es ist, wovon es abhängt. Linden ...« Er redete ihr zu, ohne sie anzusehen, als habe er Sorge, sein Blick könne sie vertreiben. »Bitte hör auf, dich nur immer zu verteidigen! Gegen mich brauchst du dich nicht zu wehren! Du könntest mir helfen, dich zu verstehen.« Bedächtig schloß er angesichts des Risikos, das er einging, seine Augen. »Wenn du magst.«
Erneut wollte sie sich weigern. Die Gewohnheit des Fliehens stak zu tief in ihr. Aber sein Wunsch stimmte genau mit dem überein, was sie bewogen hatte, ihn aufzusuchen. Ihr Verlangen nach Aussprache war zu stark, um weiterhin mißachtet werden zu können. Doch die aufgeworfene Fragestellung war so persönlicher Natur, daß sie sie nicht direkt angehen konnte. Hätte sie nicht Pechnases Geschichte gehört, vielleicht wäre sie überhaupt nicht dazu imstande gewesen. Pechnases Beispiel hatte sie jedoch für dieses Wagnis abgehärtet. Er besaß den Mut, seine Vergangenheit von neuem zu erleben. Und seine Geschichte, die Geschichte um den Vater der Ersten ...
»Manchmal habe ich diese trübsinnigen Stimmungen«, sagte sie, obwohl sie sich noch gar nicht zum Anfangen bereit fühlte. In ihrer Nähe stand ein Stuhl; aber sie blieb verkrampft stehen. »Ich habe sie schon, seit ich ein Mädchen war. Seit mein Vater gestorben ist. Als ich acht war. Sie sind wie ... Ich weiß nicht, wie ich sie beschreiben soll. Sie sind, als würde ich ertrinken und könnte nichts tun, um mich zu retten. Als könnte ich in alle Ewigkeit schreien und niemand würde mich hören.« Machtlos . »Als wäre das einzige, was ich noch tun kann, einfach zu sterben und die Sache hinter mich zu bringen. Genauso habe ich mich zu fühlen angefangen, als wir aus Coercri ausgelaufen sind. Es hat sich angestaut wie immer, und ich weiß nie, warum's dazu kommt, wenn's auftritt, oder warum's später wieder verschwindet. Aber diesmal war's anders. Für mich hat's sich gleich angefühlt – aber es war etwas anderes. Oder vielleicht stimmt's, was du gesagt hast ... als wir auf dem Kevinsblick waren. Daß hier die Dinge unseres Innenlebens nach außen verlagert sind, so daß wir ihnen begegnen, als wären sie jemand anderes. Was ich gefühlt habe, war der Wütrich. Es kann sein, es gibt also wirklich einen Grund, aus dem ich hier bin.« Nun konnte sie mit dem Sprechen nicht mehr aufhören, obwohl ein eigentümliches Schütteln ihre Brust gepackt hatte. »Vielleicht besteht tatsächlich ein Zusammenhang dazwischen, wer ich bin und was Foul will.« Die Erinnerung an Gibbons Berührung veranlaßte sie beinahe zum Würgen; doch sie krampfte ihre Kehle zusammen und unterdrückte den Ekel. »Vielleicht ist das, wie ich bin, die Ursache meiner Unbeweglichkeit. Meiner Zaghaftigkeit. Ich habe mein gesamtes Leben damit verbracht, zu beweisen, daß ich nicht so bin. Aber es sitzt zu tief. Mein Vater ...« Hier hätte sie um ein Haar einen Rückzieher gemacht. Noch nie hatte sie jemandem soviel ihres Inneren entblößt. Nun jedoch war ihr Streben nach Erlösung zum erstenmal stärker als ihr alter Abscheu. »Er war ungefähr in deinem Alter, als er starb. Er sah dir sogar ein bißchen ähnlich.« Und dem Greis, dessen
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