Der einsame Baum - Covenant 05
Wahrheit wäre die einzige, die's gibt.«
Daphins klarer Blick blieb unverändert. »Mag sein, es verhält sich so. Doch was schadet's? Er ist nur ein Elohim unter vielen.« Nach einem kurzen Moment des Überlegens sprach sie weiter. »Aber er ist nicht immer so gewesen. Er hat in sich eine Stätte des Schattens entdeckt, die er erforschen muß. Alle Lebenden haben in sich ein gewisses Maß an Dunklem, und darin liegt vieles verborgen. Sicherlich ist diese Dunkelheit gefährlich, so wie jeder Schatten, der das Licht belauert. Wir jedoch sehen darin keinen Notstand. Sind wir denn nicht allem ebenbürtig? Nichtsdestotrotz ist jener Schatten in Chant zu einflußreich geworden. Weil er soviel wagt, neigt er zur Ungeduld mit jenen, die den Schatten, welche ihre eigenen Wahrheiten werfen, noch nicht geschaut oder betreten haben. Und andere beschreiten diesen Weg mit ihm.« Nun ließ sich Daphin ein ganz neuer Eifer anmerken; sie schien im inneren Licht einer klaren Zielstrebigkeit zu strahlen. »Sonnenkundige, du mußt das folgende verstehen. Wir sind die Elohim, das Herz der Erde. Wir stehen im Mittelpunkt all dessen, was lebt, sich regt, was ist. Wir leben in Frieden, weil es niemanden gibt, der uns etwas anzuhaben vermöchte, und wäre es unser Wille, in Elemesnedene zu weilen und die Erde bis ans Ende der Zeit altern zu sehen, niemand könnte ihn uns streitig machen. Kein anderes Wesen, kein fremdes Erfordernis kann über uns ein Urteil fällen, so wie die Hand nicht über das Herz urteilen kann, das ihm Leben gewährt. Doch weil wir das Herz sind, scheuen wir nicht die Bürde der Wahrheit in uns. Wir haben gesagt, daß unsere Vision uns das Kommen von Sonnenkundigem und Ringträger angekündigt hat. Wir erblicken Anlaß zur Sorge darin, daß beide getrennte Wesen sind. Es ist von größter Bedeutsamkeit, daß Sonnenkundiger und Ringträger eins sind. Nichtsdestoweniger war die Ankunft bekannt. In den Bergen, die unseren Clachan umgeben, haben wir jenes Sonnenübel geschaut, das euch zu eurer Suche bewogen hat. Und in den Bäumen von Woodenwold haben wir euer Eintreffen gesehen. Doch wären diese Kenntnisse unser ganzes Wissen gewesen, wir hätten euch lediglich wie andere Besucher empfangen, allein mit Freundlichkeit und Neugier. Aber so gering ist unser Wissen keineswegs. Wir haben in uns selbst diesen Schatten auf dem Herzen der Erde bemerkt, und er hat unseren Sinn gewandelt. Wir haben gelernt, das Sonnenübel auf neue Weise zu betrachten – und der Gefahr, die der Erde droht, anders zu begegnen, als es unserer Gewohnheit entspricht. Du hegst Zweifel an uns. Vielleicht werden deine Zweifel bestehenbleiben. Es mag gar sein, daß sie wachsen, bis du beinahe Widerwillen gegen uns empfindest. Doch ich sage dir, Sonnenkundige, daß du uns falsch beurteilst. Es ist ungebührlich und unschön, daß du überhaupt über uns urteilst. Wir sind das Herz der Erde und werden nicht beurteilt.«
Daphin sprach mit Nachdruck, aber ohne Streitbarkeit. Vielmehr suchte sie in der Art und Weise Verständnis, wie Eltern ein Kind zu gutem Benehmen anhalten mochten. Ihr Ton beschämte Linden. Gleichzeitig jedoch lehnte sie sich dagegen auf. Daphin forderte von ihr, daß sie die Verantwortung ihres Unterscheidungsvermögens für ihr Handeln aufgab; und so etwas hatte sie ganz und gar nicht vor. Diese Verantwortung war der Grund, weshalb sie hier war, und sie hatte sie sich mittlerweile verdient. Da schwoll der Klang der Glöckchen in ihr empor wie die Mißbilligung von ganz Elemesnedene. »Was seid ihr?« erkundigte sie sich mit gepreßter Stimme. »Das Herz der Erde. Der Mittelpunkt. Die Wahrheit. Was soll das alles heißen?«
»Sonnenkundige«, antwortete Daphin, »wir sind das Würd der Erde.« Sie sprach deutlich, aber der Ton, in dem sie Wyrd sagte, verwirrte Linden; es klang wie Würde oder Wort .
Wyrd? dachte Linden. Wird? Das was wird? Oder Wort? Oder beides. Während Linden noch schwieg, begann Daphin eine Geschichte zu erzählen. Darin ging es um die Erschaffung der Erde; und Linden merkte bald, daß es sich um die gleiche Geschichte handelte, die ihr Pechnase erzählt hatte, während man den Nicor rief. Aber es war ein auffälliger Unterschied vorhanden. Daphin sprach nicht von einer Schlange. Statt dessen verwendete sie jenen verwaschenen Laut, Würd , der dem Anschein nach Wird oder Wort heißen konnte. Das Würd jedenfalls war in der Morgendämmerung der Zeitalter erwacht und hatte die Sterne zu verzehren begonnen, als
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