Der einsame Baum - Covenant 05
ihr. Lindens Bestürzung wuchs, und sie begriff eine Notwendigkeit – nämlich sowohl den Umfang wie auch die Beschränktheit ihres mentalen Hörens zu verhehlen. Wenn sie diese Glöckchensprache nicht verstehen sollte, durfte sie sich, um davon einen Nutzen zu haben, nicht anmerken lassen, was sie zur Kenntnis erhielt. Sie mußte an Geheimnissen herausfinden, was sie nur konnte. Hinter Daphins anscheinmäßiger Offenheit verheimlichten die Elohim ihre wahren Absichten. Und Covenant und Lindens übrige Gefährten waren, ob sie es wußten oder nicht, vollständig auf Linden angewiesen. Ihnen fehlte ihr Gehör.
Die Musik war nicht völlig verstummt. Also hatte sie sich nicht völlig verraten. Noch nicht. Sie blinzelte Daphin an, versuchte ihre Verwirrung zu überspielen. »Ist das alles?« fragte sie ungläubig nach. »Seid ihr damit fertig, mich zu prüfen? Ihr wißt ja noch gar nichts über mich.«
Daphin lachte unbekümmert. »Sonnenkundige, dein ›Prüfen‹ ist wie das ›Machen‹, von dem du mit solcher Verstocktheit redest. Für uns hat das Wort eine andere Bedeutung. Ich habe alles in Betracht gezogen und all die Wahrheit ergründet, die ich über dich wissen muß. Nun komm!« Erneut streckte sie ihre Hand aus. »Habe ich nicht gesagt, daß deiner das Elohim -Fest harrt? Dort wird Infelizitas auftreten und weitere Einsichten enthüllen. Und dort werden auch die Fragen gestellt und Antworten erteilt, für die ihr solche Entfernungen zurückgelegt habt. Ist's nicht dein Wunsch, an dieser Versammlung teilzunehmen?«
»Doch«, erwiderte Linden, indem sie ihr Unbehagen unterdrückte. »Genau das ist mein Wunsch.« Aufgrund der besorgniserregenden Folgerungen, die sich aus den Glöckchen ergaben, hatte sie ihre Hoffnungen vergessen. Aber ihre Freunde mußten gewarnt werden. Sie mußte einen Weg finden, wie sich die Gefahren, die hinter dem lauerten, das sie nicht wahrnehmen konnten, von ihnen abwenden ließen. Linkisch ergriff sie Daphins Hand, und die Elohim half ihr beim Aufstehen. Daphin an ihrer einen und Morgenlicht an der anderen Seite – wie zwei Wächter –, stieg sie den Hang hinab.
Es mangelte Linden hier an jeder Orientierung; aber sie stellte Daphins Führung nicht in Frage. Statt dessen konzentrierte sie sich darauf, ihre Gedanken hinter einer Maske der Strenge zu verbergen. Ringsherum waren die zahllosen Wunder von Elemesnedene zu sehen. Herausgeputzte Bäume und lohende Sträucher, in der Farbe von Götterblut getönte Fontänen, wie Gobelins mit Bildern geschmückte Tiere: überall boten die Elohim Wunderbares dar, als hätte es damit nichts Besonderes auf sich, als wäre das alles nur ein Nebenprodukt oder der Abfall ihrer Selbstbetrachtung. Nun jedoch empfand Linden jede einzelne dieser gleichgültigen Zaubereien als unheilvoll, als Beweise von Gefahr und Hinterhältigkeit. In ihrem Kopf schellten die Glöckchen. Sie versuchte krampfhaft, eine Bedeutung herauszuhören, aber ihr Klang besagte ihr nichts. Für einen Moment von messerscharfer Intensität war ihr zumute wie zu dem Zeitpunkt, als sie zum erstenmal Schwelgenstein betreten hatte: gefangen im Zwang von Santonins Kraft, all dessen, was ihrem Leben jemals Gestalt oder ihrem Willen eine Richtung gegeben hatte, restlos beraubt. Hier war der Zwang subtiler; dennoch war er von so beklemmender Wirkung wie Weihrauch, er haftete an allem wie eine allgemeine Muffigkeit, die sich auf die Atmung legte. Falls es den Elohim in den Kram paßte, sie nicht mehr fortzulassen, würde sie ihr Leben in Elemesnedene beschließen müssen.
Aber zweifelsfrei war dies nicht Schwelgenstein, und die Elohim hatten nichts mit Wütrichen gemein; Daphins Lächeln vermittelte keine Andeutung irgendeiner hintergründigen Bösartigkeit, und ihre Augen besaßen die Farbe junger Blätter im Frühling. Und während sie an ihnen vorbeistrebte, gaben all die Wundergebilde ihre Selbstversunkenheit auf, um sich ihr und der Sonnenkundigen anzuschließen. Indem sie zu menschlicher Gestalt umschmolzen, sich dazu verdichteten oder zurechtstrudelten und -wirbelten, begrüßten sie Linden, als wäre sie Erbin irgendeiner seltsamen Herrscherwürde, dann reihten sie sich hinter ihr auf und folgten in Schweigen und Geläut zum Schauplatz des Elohim -Fests. Gehüllt in Kleider, Überwürfe und Umhänge, Gewänder aller Art aus Taft, Jakonett und Organdy, als wären sie die Festprozession einer Feierlichkeit, schlossen sie sich Linden an, wie um ihr eine Ehre zu erweisen. Linden
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