Der Einzelgänger
nicht der glasige, unnatürliche Glanz im weißen Licht des OPs und die Tatsache, daß die eine Pupille doppelt so weit geöffnet ist wie die andere. »Larson«, sagt er mit einer Stimme, die so klingt, als hätte er Kies im Hals stecken. »Du bist nicht abgehauen, 'mano.«
»Nur so lange, um dich zu einem Doc zu schaffen, Chummer«, würge ich an dem Klumpen in meinem Hals vorbei.
»Ja...« Seine Stimme verliert sich.
»Paco«, sage ich scharf, »bleib bei mir, Chummer. Laß dich nicht hängen, okay?« Er nickt, und ich werfe einen Blick auf Doc Dicer. Sie wirft ostentativ einen Blick auf ihre Uhr.
Keine Zeit für eine freundliche, subtile Annäherung. Klein ist sie, aber ich habe das Gefühl, Doc Dicer könnte sogar Argent aus ihrer Klinik jagen, wenn er die Regeln bräche. »Was, zum Teufel, ist passiert, Chum-mer?« frage ich ihn. »Das Haus war leer. Warum?«
»Krank«, murmelt er. Seine Augen flackern, dann schließen sie sich. Ich verliere ihn.
»Ja«, sage ich eiligst. »Ich weiß, daß du krank geworden bist. Aber was ist mit dem Rest der Gang? Was ist passiert?«
Er schüttelt den Kopf. »Nicht. Nicht ich.« Er holt tief Luft, und das Blubbern ist wieder da. »Ja, ich meine, ja, ich bin krank geworden. Aber nicht nur ich. Auch andere.«
Was? »Wie viele andere, Paco?«
»Sieben, acht. Vielleicht zehn. Dachten zuerst, es wär' 'ne Lebensmittelvergiftung. Das haben sie zuerst gedacht, daß wir irgendso'n schlechten Drek gegessen hätten. Aber das war's nicht. Die Leute, die krank wurden, hatten nicht dasselbe gegessen. Krank. Die Leute kriegten Angst. Es wurde echt schlimm.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen.« Drek, es gibt so viel, das ich wissen muß. Viel mehr, als ich in zwei Minuten erfahren kann, aber Doc Dicer hat mit Sicherheit nicht vor, mir eine Verlängerung zu bewilligen. Ich muß mich auf das Wesentliche konzentrieren und die Einzelheiten später ergänzen oder ganz außen vorlassen. »Wann ist das passiert, Paco? Wann hat es angefangen?«
Er antwortet nicht sofort. Seine Augen sind geschlossen, sein Atem klingt wieder nach Haferschleim im Schnorchel, und ich glaube schon, daß er weg ist. Doch dann zuckt er und sagt: »Paar Tage. Paar Tage her. Tag nach dem Treffen.«
»Welchem Treffen?« Dicers Augen verraten mir, daß meine Zeit abläuft. »Nach welchem Treffen, Chum-mer?«
Wieder gibt es eine längere Verzögerung, und ich will Doc Dicer unter allen Umständen sagen, daß sie mir die tote Zeit nicht berechnen darf. Dann sagte er: »Die Elfen, 'mano. Die Elfen beim letztenmal.«
»Die Elfen aus Tir?«
»Ja. Danach.« Seine Stimme ist so leise, daß ich mich vorbeuge, um ihn besser zu verstehen. Aus dem Augenwinkel sehe ich Docs warnenden Blick, und ich erstarre. Ach ja, der Laminar-Drek.
»Okay, Paco. Ich hab's begriffen - die Elfen. Was dann?«
Eine lange Pause, und ich glaube, er ist weggedämmert. Aber dann bewegen sich seine rissigen Lippen wieder. »Panik«, flüstert er, »alle wollen weg... die Leute hauen ab... lassen mich allein. Ich bin krank, 'mano...« Dann stößt er einen tiefen Seufzer aus und ist tatsächlich weg. Zwischen Ausatmen und Einatmen ist wieder dieses Klicken, und ich fühle mich plötzlich elend.
Dicer packt meinen Arm mit festem Griff. »Schön«, schnappt sie. »Raus.«
Wie zuvor will ich mich ihrer Anordnung nicht widersetzen.
Argent und ich reden nicht miteinander, während wir im Wartezimmer herumhängen. Mir geht zuviel durch, den Kopf, um mich zu unterhalten, und die Augen des Runners verraten mir, daß es ihm ähnlich geht.
Elfen. Elfen aus Tir. Dann diese Krankheit - Drek, zehn Leute in zwei Tagen gestorben, es klingt tatsächlich nach VITAS. Gibt es eine Verbindung zu den Elfen - einen echten Kausalzusammenhang? Oder ist das nur ein Zufall? Aus der schwärzesten Tiefe der Vergangenheit fällt mir etwas aus einem Philosophiekurs ein. Einer der häufigsten logischen Fehler - post hoc, ergo propter hoc: danach und daher auch deswegen - ist die Annahme, weil Ereignis B zeitlich auf Ereignis A folgt, muß Ereignis A Ereignis B irgendwie verursacht haben.
Drek, ich weiß, daß ich emotional ausgebrannt bin, wenn ich anfange, mich an das verdammte Latein zu erinnern...
Die OP-Tür öffnet sich, und Doc Dicer kommt heraus. »Nein, er ist noch nicht tot«, beantwortet sie meine Frage, bevor ich sie stellen kann. »Er schläft - wahrscheinlich für ihn im Moment das beste -, und ich glaube, sein Zustand ist einigermaßen stabil... aber das
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