Der Einzelgänger
Mein Blick fällt immer wieder auf die uralte Zwölf-Stunden-Digitaluhr an der Wand. Sie zeigt sechs null-drei an, was 1803 in Echtzeit bedeutet, nur ein oder zwei Minuten später als bei meinem letzten Blick. Ja, ja, die Zeit vergeht wie im Flug, wenn es einem schlecht geht.
Okay, wahrscheinlich geht es mir nicht so schlecht wie Paco. Der Schattendoc behandelt den armen Kerl im Operationsraum oder in der Klinik oder was, seitdem ich ihn vor drei Stunden hergebracht habe. Die Tatsache, daß der Doc noch nicht herausgekommen ist, bedeutet wahrscheinlich, daß Paco noch nicht abgekratzt ist, aber das ist auch schon alles, was sich daraus schließen läßt. Keinen Schimmer, wie ernst die Lage ist und wie Diagnose und Prognose aussehen. Der Doc hat mir gesagt - eher befohlen -, die OP-Tür nicht mal anzurühren, und das ist ein Befehl, den zu mißachten ich keine rechte Lust habe.
Als ich mich in der heruntergekommenen Schattenklinik umsehe, habe ich so etwas wie ein schlechtes Gewissen, weil ich Paco hergebracht habe. Klar, der Bursche gehört zu den Cutters, und laut Lone Star Kanon macht ihn das zu Abschaum. Aber auf einer persönlichen Ebene habe ich ihn schon immer irgend wie gemocht. Er war immer fair und offen zu mir Drek, er hat mich gewarnt, als meine Tarnung geplatzt ist. Er hat die persönliche Loyalität mir gegenüber - einem Chummer, einem Kameraden - über die Loyalität zur Gang gestellt. Das muß einiges aufwiegen. Es überrascht mich, aber Paco kommt mir wie ein Freund vor und davon habe ich nicht allzu viele. Genauer gesagt, keinen einzigen mehr, wenn er ins Gras beißt, und das ist ein verdammt trauriger Gedanke.
Alles in allem wäre mir wohler gewesen, wenn ich ihn ins Harborview Hospital gebracht hätte. Was natürlich vollkommen ausgeschlossen war. Paco hat es zwar nie erwähnt, aber ich nehme an, er ist SINlos. Harborview würde niemanden ohne Systemidentifikationsnummer aufnehmen. Hinzu kommt, daß der Star in der Gegend um Pill Hill immer stark vertreten ist. Paco in die Eingangshalle des Krankenhauses zu schleifen hätte wahrscheinlich nur dazu geführt, daß er ins Gras gebissen hätte und ich geschnappt oder gegeekt wor den wäre. Damit blieb natürlich nur noch ein Straßen-doc, ein Schattenschnibbler, als einzige Möglichkeit übrig.
Diejenige, die ich ausgesucht habe - eine Dr. Mary Dacia, auf der Straße als Doc Dicer bekannt -, hat einen guten Ruf bei den Cutters und ist nach meiner Versetzung von Milwaukee nach Seattle bei Lone Star als ›letzte Zuflucht‹ erwähnt worden. Doc Dicer hat offenbar einen richtigen Doktor in Medizin, sich auf Traumafälle spezialisiert und sogar ein paar akademische Artikel veröffentlicht. (Warum, zum Teufel, arbeitet sie dann als Schattenschnibbler und nicht als richtiger Doc? Keinen Schimmer.) Ihre ›Klinik‹ befindet sich in einem ehemaligen Restaurant in der Blanchard Street in Sichtweite der Space Needle. Sie ist eine kleine, gut gebaute Frau mit kurzen roten Haaren, zäh und kompetent und hat eine echt frostige Art. Und doch spüre ich ein mitfühlendes menschliches Wesen unter dieser Straßenfassade. Das Beste, was ich für Paco tun konnte, und vielleicht gut genug.
Die Tür zur Gasse - Dicers ›Vordertür‹ - schwingt auf, und ich ziehe meine H&K. Ich stecke sie wieder weg, als ich sehe, daß es Argent ist. »Das hat aber lange gedauert«, knurre ich.
Der Runner zuckt die Achseln. »Jean hat dir gesagt, daß ich beschäftigt bin, als du angerufen hast«, sagt er ganz vernünftig. »Ich habe die Nachricht erst vor« - er wirft einen Blick auf seine Uhr - »zwanzig Minuten erhalten.« Er geht zur Couch und läßt sich müde darauf-sinken. Der Kontakt mit den Sprungfedern läßt ihn nicht gleich wieder aufspringen. Entweder ist er zu müde, um noch auf viele kleine Stichwunden zu reagieren, oder sein Arsch ist gepanzert. »Du hast gesagt, es ist wichtig«, bemerkt er.
»Vielleicht.« Und ich erzähle ihm von meinem Besuch im Unterschlupf der Cutters.
Seiner Miene kann ich entnehmen, daß er von meiner Entscheidung, nach Ravenna zu fahren, nicht begeistert ist, aber er hört zu und nickt dann, als ich ihm den Grund erkläre. »Riskant«, sagt er. »Aber ich hätte wahrscheinlich dasselbe getan. Erzähl weiter.«
Das tue ich, und ich schildere ihm, wie ich den Westwind vor den Hintereingang gefahren und den in Vorhänge eingewickelten Paco aus dem Haus geschleift habe und dann in die Innenstadt zu Doc Dicers Laden gerast bin, woraufhin
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