Der Einzelgänger
»Wir sind beide Laien, wenn es um solche Dinge geht, Mary«, sagt er sanft. »Wie wäre es, wenn du es uns mit einfachen Worten erklärst?«
Ihre harte Miene wird weicher, und sie nickt. »Es ist ein Retrovirus«, sagt sie nach ein paar Augenblicken. Sie fixiert mich. »Wie VITAS 3, zugegeben. Aber es gibt auch noch andere Retroviren. Manche sind ziemlich übel -MMVV verursacht zum Beispiel Vampirismus -, ein anderes verursacht eine Art Meningitis, aber es gibt auch ein Retrovirus, das bei Trollen periodisch auftretende Kopfschuppen verursacht, und ein anderes, das eine ernste Allergie gegen Erdnüsse hervorzurufen scheint. Den Populärmedien zum Trotz bedeutet Retrovirus nicht notwendigerweise ›globales Pandämonium‹, okay?«
»Okay«, stimme ich zu. »Aber ist dieses spezielle Retrovirus wie das ganz spezielle Retrovirus, das VITAS 3 hervorruft?«
»Manchmal«, sagt sie widerwillig. »Ich habe einige Modi gesehen, in denen er so ähnlich wie VITAS 3 aussieht. Und ich habe andere Modi gesehen, in denen er absolut keine Ähnlichkeit damit hat. Es liegt an dieser verdammten Antigen-Verwandlung.«
»Ja, das habe ich begriffen.« Ich überlege einen Augenblick. »Sie sagten, daß das Virus in diesem Modus« - ich spreche die Worte überdeutlich aus, was Doc Dicer dazu veranlaßt, mir einen finsteren Blick zuzuwerfen, aber was soll's - »nicht ansteckend ist. Aber es könnte ansteckend gewesen sein und es auch wieder werden. Selbst wenn es also kein - wie haben Sie es genannt? -globales Pandämonium ist, kann es trotzdem verdammt unangenehm werden, oder nicht?«
Dicer tut es nicht gerne, nickt aber dennoch. »Theoretisch«, und das Wort spricht sie jetzt selbst ziemlich deutlich aus. »Aber theoretisch könnte sich das Virus auch in etwas völlig Harmloses verwandeln...«
»Oder in etwas, das bei Trollen periodisch auftretende Kopfschuppen verursacht... Ja, klar.«
Dicer mustert mich neugierig. »Warum wollen Sie unbedingt, daß das VITAS 4 ist?« fragt sie leise.
Das läßt mich für einen Augenblick verstummen. Sie hat recht, genauso höre ich mich an, wird mir klar, als ich mir noch einmal meine letzten Bemerkungen vor Augen halte. Dann kommt mir ein neuer Gedanke. »Hey, Augenblick mal«, sage ich plötzlich. »Das Virus muß doch irgendwann ansteckend gewesen sein, richtig? Paco hat sich angesteckt, neun oder zehn andere Leute haben sich angesteckt. Das heißt doch ansteckend, oder nicht?«
Sowohl Argent als auch Doc Dicer schütteln den Kopf, aber es ist Dicer, die mir antwortet. »Nicht notwendigerweise. Ganz im Gegenteil. ›Ansteckend‹ bedeutet, man kann eine Krankheit von jemandem bekommen, der bereits mit ihr infiziert ist. Aber es gibt viele andere Vektoren - das ist der ›Übertragungsmechanismus‹«, führt sie aus. »Ich könnte aus dem Stegreif ein Dutzend Krankheiten nennen, die hundsgemein, aber im eigentlichen Wortsinn nicht ansteckend sind.«
»Das verstehe ich nicht«, muß ich zugeben.
»2037 gab es eine häßliche Seuche, die die Bluterbevölkerung in Frankreich dezimiert hat«, erklärt Doc Dicer, wobei ihre Stimme einen trockenen, dozierenden Tonfall annimmt. »Auslöser war ein Virus mit sehr langer Latenzphase - die in manchen Fällen Jahrzehnte dauerte. Man konnte sich nicht bei einem Infizierten anstecken, jedenfalls nicht auf dem üblichen Weg. Man konnte einen Infizierten küssen, mit ihm schlafen, sein Eßbesteck benutzen, was man wollte. Aber wenn man eine Bluttransfusion von ihm bekam, bingo, dann war man auch infiziert.« Sie hält inne. »Gut, im strikten Wortsinn ist diese Krankheit immer noch ansteckend gewesen, weil man sie von jemandem bekommen konnte, der infiziert war, wenngleich nur durch ganz besondere Umstände.«
»Das Tsimshianische Zweitagesfieber«, wirft Argent ein, und Dicer nickt.
»Gutes Beispiel«, stimmt sie zu. »Das ist ein Erreger, den man in einigen Flüssen im Gebiet der Queen Char-lotte-Inseln in Tsimshian findet - oder wie sie diese Inseln jetzt nennen. Die Experten sind der Ansicht, es könnte sich um ein Retrovirus handeln, aber kein Mensch ist sich dessen sicher, weil die Tsimshian-Re-gierung aus irgendwelchen hirnverbrannten Gründen jedwede Forschung verboten hat.
Jedenfalls steckt man sich an, wenn man das Wasser trinkt. In diesem Fall kriegt man das Fieber und ist nach achtundvierzig Stunden wahrscheinlich tot. Aber auch in der Phase, in der man sich die Gedärme aus dem Leib kotzt«, fährt sie fort, »kann man keine andere
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