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Der Einzelgänger

Der Einzelgänger

Titel: Der Einzelgänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nigel Findley
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ist nicht der Regen. »Was sagen sie denn, was ich getan haben soll, Paco?«
    »Gar nichts, Chummer. Sie sagen nur, du bist den Bach runter.« Den Bach runter: Cutters-Sprache für das, was der Star ›untragbar‹ oder ›nicht mehr zu retten‹ nennen würde. Übersetzung: Zum Abschuß freigegeben, vogelfrei, vielleicht ist sogar ein Kopfgeld ausgesetzt.
    »Warum?«
    »Keine Ahnung«, sagt er. »Keiner will irgendwas sagen. Nur, daß du erledigt bist.« Er zögert. »Was hast du denn getan?«
    »Wenn ich das wüßte, Priyatel«, sage ich, wobei ich jedes Gramm Aufrichtigkeit in meine Stimme einfließen lasse, das ich vortäuschen kann. »Ich weiß nur, daß gerade ein Killer-Kommando - darunter auch unser alter Chummer Maria - versucht hat, mich zu Hause abzuservieren. Hat mich total umgehauen, das kann ich dir sagen.« Paco kichert ein wenig. »Besonders deshalb, weil ich nichts getan habe, wofür ich gegeekt werden müßte.« Ich zögere. »Hör mal, Paco...«, beginne ich.
    Und wie zuvor ist er hellwach und springt auf die Idee an, bevor ich sie überhaupt formulieren kann. »Du glaubst, da will dich jemand reinlegen?«
    »Könnte gut sein. Ich bin zu vielen Leuten auf die Zehen getreten; vielleicht sind auch Bart oder Ranger zum Schluß nervös geworden, haben irgendwo eine Zeitbombe hinterlegt und waren dann nicht mehr da, um den regelmäßigen Anruf zu tätigen, damit sie nicht hochgeht.«
    »Ja, das haut hin«, sagt er langsam. »Soll ich meine Fühler ausstrecken?«
    »Aber echt vorsichtig«, bestätige ich. »Wenn ich tatsächlich so novaheiß bin, will ich nicht, daß du dich verbrennst.«
    Darüber lacht er. »Ich kann schon auf mich aufpassen, 'mano.« Er hält kurz inne. »Ruf mich unter dieser Nummer wieder an, und zwar um... sagen wir null fünf dreißig.«
    »Reicht das?«
    »Müßte eigentlich. Und nimm bis dahin den Kopf aus der Schußlinie.«
    »Worauf du dich verlassen kannst«, antworte ich, aber er hat bereits eingehängt.
    Ich verlasse die Telefonzelle, schwinge mich wieder auf meinen Hobel, lasse den Motor an und fahre langsam los. Ja, sieht so aus, als sei ich echt aufgeflogen. Vielleicht wird es doch Zeit für den Anruf beim Star...
    Aber der kann auch noch bis nach 0530 warten. Aufgeflogen ist normalerweise das gleiche wie angebumst, es geht nicht halb oder ein wenig. Aber vielleicht ist die überzeugende Lüge, die ich Paco aufgetischt habe - ich sei das Opfer einer Post-mortem-Verleumdungskampagne von Ranger und/oder Bart -, gar keine Lüge. Ich würde vielleicht das gleiche tun, wenn ich glaubte, ein Rivale in der Gang wolle mich geeken. Ein Griff nach einem Strohhalm, ich weiß, aber manchmal gibt es auch auf die unwahrscheinlichsten Quoten Geld.

    Hätte ich es nicht besser gewußt, hätte ich geschworen, meine Uhr sei stehengeblieben. Die eineinhalb Stunden zwischen 0400 und 0530 scheinen sich ein Leben lang hinzuziehen, und nur der rosarote Streifen des nahen Morgengrauens im Osten bestätigt, daß die Zeit nicht stehengeblieben ist. Kopf und Körper erinnern mich mit unmißverständlichen Worten daran, daß ich kaum zwei Stunden geschlafen habe, bevor sich der Flur des Wenonah in einen Schießstand verwandelt hat, aber darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Der Soy-kaf, den ich mir aus einem Automat gezogen habe und jetzt schlürfe, ist so heiß, daß ich mir den Mund daran verbrenne, und schmeckt, als enthalte er genug Chemikalien, um mir mit fünfunddreißig eine hübsche Auswahl verschiedener Krebsarten zu bescheren, aber Schmerzen und Ekel sind das einzige, was mich im Moment aufrecht hält.
    Nach dem Telefongespräch mit Paco mußte ich irgendeine Möglichkeit finden, neunzig Minuten totzuschlagen, ohne mich dabei selbst ins Jenseits zu befördern. Wenn ich zuvor paranoid war, dann bin ich es jetzt erst recht. Seattle ist ein verdammt großer Sprawl, aber die Cutters haben sich - in der einen oder anderen Form - über die ganze Stadt ausgebreitet. Die Wahrscheinlichkeit, jemandem über den Weg zu laufen, der mich kennt oder gar nach mir sucht, ist gering, aber nichtsdestoweniger vorhanden, wohin ich mich innerhalb des Sprawl auch wende. Also fahre ich nur ziellos herum und lande schließlich in der Nähe von Pier 42, wo wir das Lagerhaus der Eighty-Eights haben hochgehen lassen. So sicher wie sonst irgendwo und sicherer als die meisten Orte, nehme ich an. Die Eighty-Eights könnten natürlich mit noch mehr Ärger rechnen und in voller Stärke unterwegs sein.

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