Der Einzelgänger
Anruf.
Tatsächlich sogar für mehrere. Die Telefon-Drohnen in der Bürokratie des Star stellen einfach keine Anrufe von einem Straßendrek wie mir zu den Leuten durch, mit denen ich Verbindung aufnehmen muß. Und aus offensichtlichen Gründen können eben diese Telefon-Drohnen auch nicht wissen, daß ich ein Undercover-Agent bin. In den alten Zeiten hätte ich vermutlich eine Telefonnummer bekommen, die mich direkt mit dem Büro einer meiner Vorgesetzten verbinden würde, aber heutzutage ist solch eine Direktverbindung ein viel zu hohes Risiko - ein Datenpfad für außenstehende Decker, den sie benutzen können, um in das private Computer- und Telekomsystem eines Konzernangestellten einzudringen. Nein, heutzutage laufen alle Anrufe über Relaissysteme mit Wetware-Komponenten. Und diese Wetware-Komponenten - die Telefon-Drohnen - können Rick Larson nicht von einem beliebigen Gossenpunk im Sprawl unterscheiden. Für den Notfall gibt es daher andere Verfahren.
Ich beobachte meine Umgebung. Es ist 0545, und die Docks erwachen langsam zum Leben. Ich kann hier nicht viel länger bleiben, aber ich denke, für einen Anruf reicht es noch. Ich lasse den Kaugummi, wo er ist - auf der Kameralinse -, und tippe die erste von mehreren Nummern ein, die ich auswendig weiß.
»Lone Star Hauptvermittlung«, meldet sich eine synthetisierte Stimme. »Wenn Sie die fünfstellige Durchwahlnummer der Dienststelle kennen, die Sie erreichen wollen, wählen Sie sie bitte jetzt. Sollten Sie die Durchwahl nicht kennen...« Ich unterbreche das Geplapper, indem ich fünf Nullen eintippe.
Einen Augenblick lang herrscht Schweigen, dann meldet sich eine andere - ebenfalls synthetisierte -Stimme. »Sie sind mit dem automatischen Anrufbeantworter Lone Stars verbunden«, plärrt sie. »Die regulären Bürostunden sind montags bis freitags von null neunhundert bis siebzehnhundert. Bitte rufen Sie zurück.« Es klickt einmal, und es klingt so, als sei die Verbindung unterbrochen worden, aber ich weiß es besser. Ich tippe noch einmal fünf Nullen ein. Als ich fertig bin, klingelt das Telefon einmal, dann herrscht Stille. Keine Ansage weist darauf hin, aber ich weiß, daß jetzt irgendwo in den Tiefen des Star-HQs ein Aufzeichnungsgerät läuft.
»Ich bin's«, sage ich einfach und in der Zuversicht, daß der Computer am anderen Ende aufgrund meines Stimmenmusters erkennt, wer ›ich‹ ist. »Ich bin aufgeflogen. Ruft zwo-drei-zwölfhundert an.« Dann hänge ich ein.
Ich eile zu meinem Motorrad, steige auf und fahre los. Ich habe viereinviertel Stunden Zeit bis zu meinem nächsten Anruf. (Das bedeutet die Nummer, die ich am Ende angegeben habe. Ja, es klang so, als hätte ich dem Star eine LTG-Nummer mitgeteilt. In Wirklichkeit habe ich ihnen gesagt, wann sie mit meinem nächsten Anruf rechnen können. Die ersten beiden Ziffern der ›Telefon-nummer‹ waren bedeutungslos. Die Information ist in den letzten vier Zahlen versteckt: die Zeit meines beabsichtigten Anrufs plus zweihundert. Begriffen? Wenn jemand diese Leitung abgehört hat, ist dieser jemand jetzt damit beschäftigt, der LTG-Nummer 23-1200 nachzugehen. Ich frage mich, ob der Besitzer dieser Nummer in Kürze Besuch von den Cutters bekommt...)
Okay, okay, warum spaziere ich nicht einfach zum Lone Star-HQ, melde mich beim Empfang und warte in einem netten, sicheren Büro, während die Nachricht an die richtigen Stellen weitergeleitet wird - nämlich zu den wenigen Leuten in dem Gebäude, die tatsächlich über mich Bescheid wissen -, bis jemand kommt und mich abholt? Dafür gibt es gleich mehrere Gründe. Erstens: Auch wenn ich bei den Cutters aufgeflogen bin, ist die Zeit meiner Nützlichkeit in der Gegend von Seattle vielleicht noch nicht vorbei. Ich könnte irgendwo anders als Undercover-Agent arbeiten, einen anderen Auftrag bekommen. Das wäre nicht mehr möglich, wenn ich ganz offen ins Lone Star-HQ marschierte: Ein Haufen Gruppen, die ein Interesse an den Vorgängen im Star haben - und umgekehrt -, halten das pyramidenförmige Gebäude an der Ecke Zweite und Union unter Beobachtung. Diese Gruppen registrieren gewohnheitsmäßig jeden, der offenbar eine Verbindung zum Star hat, und wenn sich mein Besuch in der Unterwelt herumspräche, wäre mein nächster Auftrag als verdeckter Ermittler auch mein letzter. Peng.
Es gibt aber noch einen anderen verdammt guten Grund: Selbsterhaltung. Die Tatsache, daß Blake mir ein Killer-Kommando auf den Hals gehetzt hat, anstatt ein-fach abzuwarten,
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