Der Einzige und sein Eigentum (German Edition)
Bildungsstufe der Sittlichkeit stand, eine Unsittlichkeit gewesen, wenn er der verführerischen Zusprache Kritons hätte folgen und dem Kerker entrinnen wollen; zu bleiben war das einzig Sittliche. Allein es war es lediglich darum, weil Sokrates – ein sittlicher Mensch war. Die »sittenlosen, ruchlosen« Revolutionsmänner dagegen hatten Ludwig XVI. Treue geschworen, und dekretierten seine Absetzung, ja seinen Tod, die Tat war aber eine unsittliche, worüber die Sittlichen sich in alle Ewigkeit entsetzen werden.
Mehr oder weniger trifft jedoch dies alles nur die »bürgerliche Sittlichkeit«, auf welche die Freieren mit Verachtung herabsehen. Sie ist nämlich, wie überhaupt die Bürgerlichkeit, ihr heimischer Boden, von dem religiösen Himmel noch zu wenig entfernt und frei, um nicht die Gesetze desselben kritiklos und ohne Weiteres nur auf ihr Gebiet herüber zu verpflanzen, statt eigene und selbständige Lehren zu erzeugen. Ganz anders nimmt sich die Sittlichkeit aus, wenn sie zum Bewußtsein ihrer Würde gelangt, und ihr Prinzip, das Wesen des Menschen oder »den Menschen«, zum einzigen Maßgebenden erhebt. Diejenigen, welche zu so entschiedenem Bewußtsein sich durchgearbeitet haben, brechen vollständig mit der Religion, deren Gott neben ihrem »Menschen« keinen Platz mehr findet, und wie sie (s. unten) das Staatsschiff selbst anbohren, so zerbröckeln sie auch die im Staate allein gedeihende »Sittlichkeit«, und dürften folgerichtig nicht einmal ihren Namen weiter gebrauchen. Denn, was diese »Kritischen« Sittlichkeit nennen, das scheidet sich sehr bündig von der sogenannten »bürgerlichen oder politischen Moral«, ab, und muß dem Staatsbürger wie eine »sinn- und zügellose Freiheit« vorkommen. Im Grunde aber hat es nur die »Reinheit des Prinzips« voraus, das, aus seiner Verunreinigung mit dem Religiösen befreit, nun in seiner geläuterten Bestimmtheit als – »Menschlichkeit« zur Allgewalt gekommen ist. Deshalb darf man sich nicht wundern, daß auch der Name Sittlichkeit neben andern, wie Freiheit, Humanität, Selbstbewußtsein usw. beibehalten, und nur etwa mit dem Zusatze einer »freien« Sittlichkeit versehen wird, gerade so wie auch, obgleich der bürgerliche Staat Unglimpf erfährt, doch der Staat als »freier Staat«, oder, wenn selbst so nicht, doch als »freie Gesellschaft« wieder erstehen soll.
Weil diese zur Menschlichkeit vollendete Sittlichkeit mit der Religion, aus welcher sie geschichtlich hervorgegangen, sich völlig auseinandergesetzt hat, so hindert sie nichts, auf eigene Hand Religion zu werden. Denn zwischen Religion und Sittlichkeit waltet nur so lange ein Unterschied ob, als unsere Beziehungen zur Menschenwelt durch unser Verhältnis zu einem übermenschlichen Wesen geregelt und geheiligt werden, oder so lange als unser Tun ein Tun »um Gottes willen« ist. Kommt es hingegen dahin, daß »dem Menschen der Mensch das höchste Wesen ist«, so verschwindet jener Unterschied, und die Sittlichkeit vollendet sich, indem sie ihrer untergeordneten Stellung entrückt wird, zur – Religion. Es hat dann nämlich das bisher dem höchsten untergeordnete höhere Wesen, der Mensch, die absolute Höhe erstiegen, und Wir verhalten Uns zu ihm als zum höchsten Wesen, d. h. religiös. Sittlichkeit und Frömmigkeit sind nun ebenso synonym, als im Anfang des Christentums, und nur weil das höchste Wesen ein anderes geworden, heißt ein heiliger Wandel nicht mehr ein »heiliger«, sondern ein »menschlicher«. Hat die Sittlichkeit gesiegt, so ist ein vollständiger – Herrenwechsel eingetreten.
Nach der Vernichtung des Glaubens wähnt Feuerbach in die vermeintlich sichere Bucht der Liebe einzulaufen. »Das höchste und erste Gesetz muß die Liebe des Menschen zum Menschen sein. Homo homini Deus est – dies ist der oberste praktische Grundsatz – dies der Wendepunkt der Weltgeschichte.« Eigentlich ist aber nur der Gott verändert, der Deus, die Liebe ist geblieben; dort Liebe zum übermenschlichen Gott, hier Liebe zum menschlichen Gott, zum homo als Deus. Also der Mensch ist Mir – heilig. Und alles »wahrhaft Menschliche« ist Mir – heilig! »Die Ehe ist durch sich selbst heilig. Und so ist es mit allen sittlichen Verhältnissen. Heilig ist und sei Dir die Freundschaft, heilig das Eigentum, heilig die Ehe, heilig das Wohl jedes Menschen, aber heilig an und für sich selbst.« Hat man da nicht wieder den Pfaffen? Wer ist sein Gott? Der Mensch? Was das Göttliche? Das Menschliche!
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