Der eiserne Gustav
das Fenster und sah gedankenvoll, nichts sehend, in den Krankenhausgarten. Er war müde, er war abgespannt, seit elf Stunden war er auf den Beinen, und es war noch kein Ende abzusehen …
Aber, dachte er, dies ist erst der Anfang. – Dies ist erst der Anfang …, dachte er langsam, und ohne besonders erregt oder verzweifelt zu sein. Dies ist erst der Anfang …
Vier Mobilmachungstage hatten ihm drei Viertel seiner Ärzte fortgeholt: Sie waren gegangen. – »Macht’s gut hier!« hatten sie gesagt und waren gegangen. Drei Viertel der Ärzte fort, von dem Pflegepersonal gar nicht zu reden, und die Belegung war etwas über dem Durchschnitt. Nun ja, dies war also erst der Anfang …
Der Oberarzt legte die Zigarette in einen Aschenbecher, nach dem ersten Zug hatte er keinen weiteren mehr getan. Gedankenlos trat er wieder an die Wasserleitung und fing von neuem an, sich mit der eingelernten, tausendfach beobachteten Genauigkeit die Hände zu waschen und zu bürsten. Erwußte nicht, daß er es tat. Manchmal machte ihn ein Kollege darauf aufmerksam, oder die Operationsschwester sagte: »Sie waschen sich ja schon wieder, Herr Professor. Erst vor zwei Minuten waren Sie an der Leitung.«
Aber jetzt war keiner da, der ihn erinnern konnte. Sorgfältig bürstete er die Nägel …
»Macht’s gut!« sagten sie und gingen. Aber wie konnte man es gut machen, mit knapp einem Viertel des normalen Ärztebestandes? Man mußte es ja schlecht machen, immerzu die Augen zudrücken, über die schrecklichsten Nachlässigkeiten fortsehen …
Es wird Menschen kosten, denkt er müde, und so lange er schon in seinem Beruf gearbeitet, an so vielen Krankenbetten er auch schon gestanden hat, er hat nie das Gefühl dafür verloren, daß da Menschen lagen, keine Fälle: Mütter, deren Kinder zu Haus weinen; Väter, auf deren Leben Glück und Wohlstand eines kleinen Gemeinwesens beruhen.
Es wird Menschen kosten, denkt er. Aber in der nächsten Zeit wird nichts so wohlfeil sein wie Menschenleben. Und es werden nicht nur die Kranken, die Verbrauchten, die Alten sterben – grade die Jugend wird fort müssen, die Jugend, die Gesundheit. Die Kraft des Volkes wird systematisch verringert werden, tagelang, wochenlang, vielleicht monatelang … Und ich stehe hier und jammere, daß ich einen vereiterten Blinddarm eine halbe Stunde zu spät operiere?
Er sieht um sich und horcht. Er steht schon wieder an der Wasserleitung und wäscht sich die Hände. Die Zigarette verschwelt im Aschenbecher, aber das hat ihn nicht aufmerksam gemacht. Langsam kommt ihm zum Bewußtsein, daß es vielleicht geklopft hat, und als er nun »Herein!« sagt, tut sich wirklich die Tür auf, und eine Schwester tritt ein, etwas verlegen.
»Nun, Schwester, was ist denn?« fragt er zerstreut und trocknet sich die Hände am Handtuch. »Ich gehe gleich noch einmal durch die Station. – Oder ist es eine Neuaufnahme?«
Die Schwester schüttelt den Kopf und sieht ihn an. Sie hat merkwürdige Augen, ein wenig scheu und doch trotzig; sie hat auch ein unausgeglichenes Gesicht, jung und doch scharf. Sie hat es wohl nicht immer leicht gehabt.
»Ich habe eine persönliche Bitte, Herr Professor«, sagt die Schwester leise.
»Damit gehen Sie aber besser zu Ihrer Oberin, Schwester. Sie wissen doch, daß Sie Ihrer Oberin unterstehen.«
»Ich war schon bei der Oberin«, sagt die Schwester leise. »Aber die Oberin hat es mir abgeschlagen. Und da habe ich gedacht, Herr Professor …«
»Nein, Schwester, nein«, sagt der Arzt energisch. »Einmal mische ich mich grundsätzlich nicht in die Angelegenheiten der Schwesternschaft. Und dann habe ich jetzt wirklich so viel um die Ohren …«
Er sieht die Schwester abschließend an, seufzt, schiebt die Ärmel hoch und geht zur Wasserleitung.
»Herr Professor hatten sich grade eben gewaschen, als ich hereinkam«, sagt die kleine Schwester mutig. (Der Tick des Oberarztes ist natürlich im ganzen Krankenhaus bekannt.) »Danke schön, Schwester«, sagt der Professor. »Sie können der Operationsschwester – Sie wissen, Schwester Lilli – sagen, daß ich in zehn Minuten wieder anfange.«
Und er läßt sich das Wasser über die Hände laufen.
»Ja, Herr Professor.« Sie sieht ihn zögernd, etwas ängstlich an. »Herr Professor, verzeihen Sie, daß ich noch einmal davon anfange … Es sind heute früh die bestimmt, die mit an die Front dürfen … Und ich – ich soll nicht mit …«
Der Oberarzt macht eine ärgerliche Gebärde. »Es können nicht alle
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