Gefangene Seele
1. KAPITEL
S t. Louis, Missouri 1977
Es war erst kurz nach Mitternacht, als Margaret Cochrane die Augen öffnete und ihren schlafenden Mann ansah. Seit sieben Jahren war sie mit Sam Cochrane verheiratet, ihre Tochter Jade war vor vier Jahren zur Welt gekommen. Früher hatte sie Sam Cochrane mehr als ihr eigenes Leben geliebt, aber im letzten Jahr war es ihr schwergefallen, ihre Unzufriedenheit mit sich und ihrem Leben zu verbergen. Die Zeiten hatten sich geändert.
Seit Jahren war ihr Land in einem Krieg mit einem anderen verwickelt, dessen Namen sie kaum aussprechen konnte. Junge Männer waren aus den USA in Nachbarländer geflohen, um dem Militärdienst zu entkommen und nicht eingezogen zu werden. Menschen, die in Margarets Alter waren, hatten Sit-ins organisiert, um gegen den Krieg zu protestieren. Sie hatten die amerikanische Flagge verbrannt und Sternmärsche nach Washington D.C. unternommen. Margaret hatte das Gefühl, ihr Leben ginge an ihr vorbei. Sie wollte ein Teil all dessen sein – die Welt zum Besseren verändern. Aber ihre Aufgaben als Ehefrau und Mutter hatten sie davon abgehalten.
Um ihrer emotionalen Leere zu entkommen, hatte sie sich im benachbarten College für einen Selbsterfahrungskurs eingeschrieben. Eines Tages, der Kurs lief noch keine zwei Wochen, hatte sie eine Abkürzung genommen und war über die Grünflächen auf dem College-Gelände zur Bushaltestelle gegangen. Wieder auf dem schmalen Fußweg blockierte eine große Menschenansammlung ihren Weg. Sie hatte solche Leute schon einmal gesehen, aber noch nie aus unmittelbarer Nähe. Sowohl Männer als auch Frauen hatten lange Haare, die sie offen trugen. Einige hatten sich Blumen hineingeflochten, andere hielten Sträuße in der Hand und verschenkten einzelne Blüten an die Passanten. Ihre Kleidung erinnerte an Zigeuner aus Hollywood-Filmen – die Stoffe waren leuchtend bunt eingefärbt, die Röcke der Frauen reichten bis zu ihren Knöcheln, während die Männer enge Hosen trugen und Hemden, die mit psychedelischen Mustern bedruckt waren und bis zur Mitte der Oberschenkel reichten. Sie nannten sich die People of Joy, die Freudenmenschen, und wurden von einem Mann angeführt, der sich den Namen Solomon gegeben hatte.
Margaret hielt an und lauschte aus einiger Entfernung neugierig ihren Reden über freie Liebe und Frieden und darüber, dass man den Krieg verhindern müsse. Plötzlich sprang der Mann, der sich Solomon nannte, von der kleinen Mauer, auf der er gestanden hatte, und kam direkt auf sie zu.
Ein einziger Blick des charismatischen Führers mit den dunklen Augen reichte aus, und sie war ihm verfallen. Er lächelte sie an und berührte ihr Gesicht, dann ihr Haar mit dem Handrücken. Sie spürte seinen warmen Atem, als er sich zu ihr hinabbückte, um ihr eine Blüte hinter ihr Ohr zu klemmen. Als er das tat, lachten die Menschen um sie herum und applaudierten, und Margaret hatte das Gefühl zu schweben.
Die Tage kamen und gingen, und schließlich war sie fast jeden Tag auf dem College-Gelände. Sieben Tage waren seit ihrer ersten Begegnung mit Solomon vergangen, als sie wieder zum College ging und diesmal Jade mitnahm.
Die Leute behandelten ihre Tochter wie eine Prinzessin. Sie beteuerten, wie außerordentlich hübsch Jade sei, flochten ihr Blüten in ihre schwarzen lockigen Haare und malten ihr einen kleinen Schmetterling auf ihre runde Wange. Sie ließen Margaret hochleben, bis sie das Gefühl hatte, die Mutter eines heiligen Wesens zu sein. In der kurzen Zeit, die seit ihrer ersten Begegnung mit diesen Leuten vergangen war, hatte sie das trügerische Gefühl bekommen, eine Familie gefunden zu haben. Und so hatte die Gehirnwäsche von Margaret Cochrane begonnen.
Sechs Monate später war sie kurz davor, das Treuegelöbnis mit ihrem Mann, den Schwur, ihn immer zu lieben und zu ehren, aufzulösen. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, hatte sie sogar vor, ihm sein einziges Kind wegzunehmen. Mehr als einmal hatte sie daran gedacht, es ihm zu sagen, aber sie wusste, er würde sie nie verstehen.
Vorsichtig schlüpfte sie aus dem Bett, um Sam nicht zu wecken. Dann stand sie in der Dunkelheit im Raum und sah auf sein Gesicht hinab. Er sah so gut aus, und er liebte sie wirklich. Aber immer war er beschäftigt, und er verstand sie nicht. Margaret schien es, als sei ihm alles wichtiger als sie. Sie zögerte kurz, bevor sie die Augen zusammenkniff. Dann zog sie schnell ihr Nachthemd aus und ein langes blaues Kleid mit
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