Der eiserne Gustav
warte sie gierig auf den Namen Otto Hackendahl – damit endlich die Erlösung kommt, eine endgültige Entscheidung nach dem ewigen, bangenden Warten von nun schon zwei Jahren. Aber das Schwarz der Zeitungen verwirrt sich, die Gefallenenkreuze schieben sich ineinander, vor den Fenstern heult der Wind … Das Boot ist draußen, und der Vater ist draußen, und sie sind allein im Haus, Mutter und Kinder …
Wie erzählen die Fischer auf Hiddensee? Wenn einer von ihnen ertrinkt, und im Ertrinken ruft er nach seinem Weib, so geht der Ruf so weit, wie es auch sein mag, und erreichtdie Gerufene. Er weckt sie aus tiefstem Schlaf: Der Sterbende sagt der Lebenden auf Wiedersehen!
So drang durch das Geschiebe der schwarzen Kreuze ein Ruf zu der Schläferin und hatte sie geweckt. Sie hatte zuerst gemeint, es sei das Kind gewesen. Aber da sie nun wieder einschlafen wollte, wußte sie: Es war nicht das Kind gewesen,
er
war es gewesen.
Sie lag wach und hätte gerne geweint. Aber sie konnte nicht weinen. Es dauerte schon zu lange. Es half ihr auch nichts, daß sie wußte, es ging allen Frauen jetzt so. Alle Frauen träumten Nacht für Nacht den Traum vom gefallenen Mann. Vom gefallenen Bruder. Vom gefallenen Sohn. Es half ihr nichts, daß sie sich sagte: Es kann ja gar nicht anders sein. An was man den ganzen Tag denkt, an das denkt auch im Schlaf das Hirn weiter. Es hat nichts zu bedeuten. Und es half ihr nichts, daß sie sich sagte: Hundertmal habe ich schon dieses und ähnliches geträumt, und er hat doch immer wieder geschrieben.
Sondern nichts half. Und sie wußte schon, daß nichts half. Daß es in ihr saß, in ihr und in allen Frauen, Schwestern, Müttern. Daß man es eben ertragen mußte, dieses unendliche, peinigende Warten, bis endlich wieder einmal der Briefträger den Feldpostbrief abgab. Und nach fünf Minuten der Erleichterung, des Aufatmens begannen wieder die fünfhundert, die fünftausend, die fünfzigtausend Minuten bangenden Wartens!
Nein, nichts half – und doch ertrug sie es, sie wie alle anderen. Sie stöhnte: »Es ist unerträglich, es muß endlich ein Ende nehmen, so oder so.« Aber es nahm kein Ende, und sie ertrug es weiter. Sie ertrug es, weil sie ein Kind zu versorgen hatte, weil die nackteste Notdurft des Lebens ihr immer neue Pflichten auferlegte, weil sie Briefe ins Feld zu schreiben hatte, die nie mutlos klingen durften, weil sie unendlich arbeiten mußte, um ihm noch Feldpostpäckchen zu schicken … Weil jeder Tag schon in frühester Stunde mit einem eisernen »Du mußt!« auf sie zutrat, weil sie eben nicht die Hände in den Schoß legen, sich nicht ihrer Trauer hingeben konnte.
Schließlich ist Gertrud Gudde doch wieder eingeschlafen,wie sie schließlich fast jede Nacht über ihren Ängsten wieder einschlief. Noch zweimal weckten ihre Träume sie, und mit der alten Angst starrte sie in die Nacht und lauschte auf den Sturm. Das eine Mal hatte sie falsch gelegen, ihre schwache kranke Brust hatte unter einem schweren Druck geseufzt, und sie hatte ihren schrecklichsten Traum geträumt, den sie manchmal hatte, seit ihr plötzlich klargeworden war, was diese auf einmal überall geleierte Redensart »Scheintot im Massengrab« eigentlich bedeutete.
Sie hatte mit Otto unter den anderen gelegen, lebendig unter Toten, und sie hatte versucht, sich hervorzuwühlen … Oh, wie konnten die Menschen einander quälen! Wie konnte jemand, der ein Herz hatte, so etwas sagen?! Atemlos starrte sie in das Dunkel und versuchte, die grauenhaften Bilder aus sich zu vertreiben.
Der dritte Traum aber war fast schön gewesen. Denn sie hatte neben Otto gesessen in einem frühlingsgrünen Walde, und Otto hatte aus der Tasche seines feldgrauen Rockes eine lange Flöte gezogen und hatte gesagt: Die habe ich geschnitzt. Jetzt will ich dir etwas vorspielen!
Er hatte zu spielen angefangen, und bei seinem Spiel waren aus jedem Schalloch der Flöte Vögel geschlüpft. Und die Vögel waren auf der Flöte sitzen geblieben und hatten zu seinem Spiel zu zwitschern und zu singen angefangen. Das hatte unfaßbar schön geklungen. Sie hatte sich immer näher an ihn gelehnt, und schließlich hatte sie ihn umgefaßt. Da hatte er gesagt: Du darfst mich aber nicht zu sehr anfassen. Du weißt doch, daß ich gestorben und nur noch Asche und Staub bin, Tutti?
Sie hatte es wirklich gewußt, aber nur noch fester hatte sie ihn angefaßt. Da war er in ihren Armen zergangen, wie ein leichter Nebel war er durch den Frühlingswald verweht, ganz
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