Der Elefant verschwindet
mein Leben. Das heißt mein Leben, bevor ich aufhörte zu schlafen. Eigentlich war fast jeder Tag gleich. Ich führte ein kleines Tagebuch, doch wenn ich einmal zwei, drei Tage die Eintragungen vergessen hatte, konnte ich schon nicht mehr auseinanderhalten, was an welchem Tag geschehen war. Wenn gestern vorgestern wäre, würde es mir nicht auffallen. Manchmal frage ich mich, was das für ein Leben ist. Ich empfinde es nicht als leer. Ich wundere mich einfach nur. Darüber, dass sich gestern und vorgestern nicht unterscheiden lassen. Darüber, dass ich Teil eines solchen Lebens bin und davon verschluckt werde. Darüber, dass meine eigenen Fußspuren vom Wind fortgeweht werden, ehe ich Zeit habe, sie zu betrachten. In solchen Momenten gehe ich ins Badezimmer und betrachte mein Gesicht im Spiegel. Ich sehe es ungefähr eine Viertelstunde lang an. Ich lasse meinen Kopf ganz leer werden und denke an nichts. Ich starre in mein Gesicht wie in einen rein physischen Gegenstand. Langsam löst es sich von mir. Es wird zu etwas, das einfach gleichzeitig mit mir existiert. Ich weiß, das ist die Gegenwart. Fußspuren spielen hier keine Rolle. Realität und ich existieren gleichzeitig, das ist das Wichtigste.
Aber jetzt kann ich nicht mehr schlafen. Seit ich nicht mehr schlafen kann, führe ich auch kein Tagebuch mehr.
2
Ich erinnere mich klar und deutlich an die erste Nacht, in der ich nicht mehr schlafen konnte. Ich hatte einen schrecklichen Traum. Einen finsteren, ekligen Traum. An den Inhalt erinnere ich mich nicht, was mir aber im Gedächtnis blieb, ist dieses unheimliche, unglückverheißende Gefühl. Am Höhepunkt des Traums wachte ich auf. Ich war mit einem Schlag wach, als sei ich im äußersten Moment der Gefahr gerade noch rechtzeitig zurückgerissen worden, bevor ich nicht mehr aus dem Traum hätte zurückkehren können. Eine Weile rang ich keuchend nach Atem. Meine Arme und Beine waren taub und ließen sich nicht richtig bewegen. Starr und wie in einer Höhle lag ich da, nur mein eigener Atem war auffällig laut.
Es war nur ein Traum, sagte ich zu mir selbst. Das Gesicht starr nach oben gewandt, wartete ich darauf, dass mein Atem sich wieder beruhigte. Mein Herz schlug heftig, und wie ein Blasebalg spannten sich meine Lungen und zogen sich wieder zusammen, um es rasch mit Blut zu versorgen. Mit der Zeit aber nahmen die Schwingungen ab und hörten dann ganz auf. Ich fragte mich, wie viel Uhr es wohl sei. Ich wollte auf meine Uhr neben dem Kopfkissen gucken, doch ich konnte meinen Kopf nicht richtig drehen. In dem Moment meinte ich an meinen Füßen etwas zu sehen, einen undeutlichen, schwarzen Schatten. Ich hielt den Atem an. Mein Herz, meine Lungen, alles in meinem Körper schien zu erstarren. Bewegungslos sah ich auf den Schatten.
Unter meinem Blick nahm der Schatten jäh, als habe er darauf gewartet, klare Formen an. Die Umrisse wurden deutlich, das Innere füllte sich mit Substanz, dann wurden auch die Einzelheiten sichtbar. Es war ein abgemagerter alter Mann in eng anliegender schwarzer Kleidung. Seine Haare waren grau und kurz, seine Wangen eingefallen. Der Alte stand starr an meinen Füßen. Er fixierte mich mit seinen durchdringenden Augen. Er hatte riesige Augen, in denen ich deutlich die sich abzeichnenden roten Äderchen erkennen konnte. Aber sein Gesicht war völlig ohne Ausdruck. Es sagte mir nichts. Es war leer wie ein Loch.
Das ist kein Traum, dachte ich. Aus dem Traum war ich ja bereits erwacht. Und ich war nicht nur halb wach, sondern meine Augen waren weit aufgerissen. Nein, dies ist kein Traum. Es ist Wirklichkeit . Ich versuchte, mich zu bewegen. Vielleicht sollte ich meinen Mann wecken oder das Licht anmachen. Aber wie sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte mich nicht bewegen. Ich konnte noch nicht einmal einen Finger rühren. Als mir klar wurde, dass ich zu keiner Bewegung fähig war, überfiel mich plötzlich Angst. Eine archaische grauenvolle Angst, die lautlos wie Kälte aus der bodenlosen Quelle des Gedächtnisses aufstieg. Diese Kälte drang bis in das Mark meiner Existenz. Ich wollte schreien. Aber ich brachte keinen Laut heraus. Ich konnte noch nicht einmal meine Zunge bewegen. Das Einzige, was ich konnte, war, den alten Mann anzustarren.
Er hielt irgendetwas in der Hand. Etwas Schmales, Langes, mit einer Rundung. Es schimmerte weiß. Ich starrte es an, und dieses Etwas begann deutlich zu werden. Es war ein Krug. Der alte Mann zu meinen Füßen hielt einen Wasserkrug. Einen
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