Der Elefant verschwindet
wieder zu klopfen. Ich stand vom Sofa auf und lief in sein Zimmer. Aber er schlief tief und fest, eine Hand über dem Mund, die andere zur Seite ausgestreckt. Er schlief genauso friedlich wie mein Mann. Ich deckte ihn richtig zu. Was immer auch meinen Schlaf so grausam gestört haben mochte, es schien jedenfalls nur mich überfallen zu haben. Mein Mann und mein Sohn hatten nichts gemerkt.
Ich ging zurück ins Wohnzimmer und lief ein wenig herum. Ich fühlte nicht die geringste Müdigkeit.
Ich überlegte, ob ich noch ein Glas Cognac trinken sollte. Ich wollte noch mehr trinken. Ich wollte meinen Körper noch mehr wärmen, meine Nerven noch mehr beruhigen, und ich wollte noch einmal diesen klaren starken Geschmack im Mund spüren. Doch nach kurzem Zögern entschied ich mich dagegen. Ich mochte nicht am nächsten Morgen noch betrunken sein. Ich stellte den Cognac in den Schrank zurück, trug das Glas in die Küche und wusch es ab. Ich nahm ein paar Erdbeeren aus dem Eisschrank und aß sie.
Das Zittern auf meiner Haut war fast verschwunden.
Was war das nur für ein alter schwarz gekleideter Mann, überlegte ich. Er war mir vollkommen unbekannt. Auch seine schwarze Kleidung war so seltsam, wie ein eng anliegender Trainingsanzug, doch zugleich altmodisch. Ich hatte so ein Kleidungsstück noch nie gesehen. Und seine Augen, blutunterlaufene Augen, die nicht ein einziges Mal geblinzelt hatten. Wer war das? Und warum hatte er Wasser auf meine Füße gegossen? Warum musste er das tun?
Ich hatte nicht die geringste Ahnung. Es gab keine Erklärung dafür.
Als meine Freundin in Trance geriet, hatte sie im Haus ihres Verlobten übernachtet. Während sie schlief, tauchte ein ungefähr fünfzigjähriger, verärgert dreinblickender Mann auf und befahl ihr, das Haus zu verlassen. Sie konnte sich damals vor Schreck nicht bewegen. Und sie war auch völlig nassgeschwitzt. Für sie bestand kein Zweifel daran, dass es der Geist des verstorbenen Vaters ihres Verlobten war, der ihr befahl, das Haus zu verlassen. Aber als sie sich am nächsten Tag von ihrem Verlobten ein Foto des Vaters zeigen ließ, sah dieser völlig anders aus. »Ich war wahrscheinlich sehr angespannt«, sagte sie, »das hat die Trance ausgelöst.«
Aber ich bin nicht angespannt. Und außerdem ist dies mein Haus. Es gibt hier nichts, was mich bedrohen könnte. Warum musste ich jetzt hier in Trance fallen?
Ich schüttelte den Kopf. Denk nicht mehr darüber nach. Denken nützt nichts. Es war nur ein realistischer Traum. Wahrscheinlich war ich bloß erschöpft. Bestimmt war das Tennisspielen von vorgestern daran schuld. Nach dem Schwimmen hatte ich im Sportclub eine Freundin getroffen, die mich zum Tennis einlud, und ich hatte es etwas übertrieben. Meine Arme und Beine waren eine Weile danach noch ganz schlapp gewesen.
Als ich die Erdbeeren aufgegessen hatte, legte ich mich aufs Sofa und schloss probehalber die Augen.
Ich war nicht im Mindesten müde.
Also gut, dachte ich. Ich bin absolut nicht müde.
Ich könnte ein Buch lesen, bis ich müde würde. Ich ging ins Schlafzimmer und suchte mir im Bücherregal einen Roman aus. Obwohl ich dafür das Licht anknipste, rührte sich mein Mann kein bisschen. Ich entschied mich für »Anna Karenina«. Ich hatte irgendwie Lust auf einen langen russischen Roman. »Anna Karenina« hatte ich vor langer Zeit als Gymnasiastin schon einmal gelesen. An die Geschichte erinnerte ich mich nicht mehr, nur noch die erste Zeile war mir im Gedächtnis geblieben und die letzte Szene, in der sich die Heldin vor den Zug wirft. Der Anfang hieß, glaube ich: »Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.« Außerdem gab es gleich zu Beginn eine Szene, die den Höhepunkt, den Selbstmord der Heldin, andeutet. Und spielte nicht eine Szene auf einer Rennbahn? Oder war das ein anderer Roman?
Jedenfalls ging ich zum Sofa zurück und öffnete das Buch. Es musste Jahre her sein, dass ich so in aller Ruhe und konzentriert ein Buch gelesen hatte. Natürlich hatte ich manchmal in meiner freien Zeit am Nachmittag für eine halbe oder eine Stunde in einem Buch gelesen. Aber man kann das nicht wirklich lesen nennen. Auch wenn ich ein Buch las, dachte ich im nächsten Moment schon wieder an etwas anderes – an meinen Sohn oder ans Einkaufen, daran, dass der Eisschrank nicht ganz in Ordnung war oder daran, was ich zur Hochzeit der Verwandten tragen sollte, oder an die Magenoperation meines
Weitere Kostenlose Bücher