Der Elefant verschwindet
es benennen könnte, würde diese »Sonderbarkeit« vielleicht klar werden. Aber das ist mir bisher noch nicht gelungen. Einmal habe ich aus irgendeinem Grund versucht, ihn zu porträtieren. Aber es war unmöglich. Als ich mit dem Bleistift vor dem Blatt Papier saß, konnte ich mich nicht im Mindesten an sein Gesicht erinnern. Ich war etwas schockiert. So lange leben wir schon zusammen, und ich weiß nicht, wie er aussieht. Ich würde ihn natürlich wiedererkennen. Ab und zu taucht sein Gesicht auch vor meinen Augen auf. Aber sobald ich ihn zu malen versuche, kann ich mich an nichts mehr erinnern. Als würde ich gegen eine unsichtbare Wand rennen. Ich weiß mir keinen Rat. Das Einzige, woran ich mich erinnere, ist, dass er ein sonderbares Gesicht hat.
Manchmal ängstigt mich das.
Die meisten Leute mögen ihn gern, was in seiner Branche natürlich wichtig ist. Wäre er nicht Zahnarzt, hätte er bestimmt auch in vielen anderen Berufen Erfolg. Die meisten überkommt unbewusst ein Gefühl der Sicherheit, wenn sie mit ihm sprechen. Ich hatte vorher noch nie so jemanden wie ihn getroffen. Auch meinen Freundinnen gefällt er. Und dass ich ihn mag, ist klar. Ja, ich glaube, ich liebe ihn. Aber ehrlich gesagt, besonders »gefallen« tut er mir nicht.
Auf jeden Fall lacht er ganz natürlich, wie ein Kind. Normalerweise können erwachsene Männer nicht so lachen. Und außerdem hat er, vielleicht versteht sich das von selbst, sehr schöne Zähne.
»Es ist nicht meine Schuld, dass ich so gut aussehe«, sagt mein Mann lächelnd. Es ist immer der gleiche Spruch. Dieser alberne Witz, den nur wir verstehen. Aber mit diesem Witz bestätigen wir sozusagen die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit, dass wir es irgendwie geschafft haben. Es ist ein sehr wichtiges Ritual.
Morgens um viertel nach acht fährt er mit seinem Bluebird aus der Garage unseres Apartmenthauses. Unser Sohn sitzt auf dem Beifahrersitz. Die Grundschule liegt auf dem Weg zur Praxis. »Sei vorsichtig«, sage ich. »Mach dir keine Sorgen«, sagt er. Es sind immer die gleichen Sätze. Aber ich kann nicht umhin, sie zu sagen: Sei vorsichtig. Und mein Mann muss antworten: Mach dir keine Sorgen. Er schiebt eine Haydn- oder Mozart-Kassette in die Stereoanlage, und während er die Melodie vor sich hinsummt, startet er den Motor. Winkend fahren die beiden ab. Beide haben eine frappierend ähnliche Art, mit der Hand zu winken. Sie halten ihren Kopf im gleichen Winkel, und mit der Hand, deren Handfläche sie beide in gleicher Weise mir zuwenden, machen sie kleine Bewegungen nach links und rechts. Als ob es jemand mit ihnen einstudiert hätte.
Ich habe mein eigenes Auto, einen gebrauchten Honda City. Ich habe ihn vor zwei Jahren fast umsonst einer Freundin abgekauft. Die Stoßstangen sind verbeult, die Form altmodisch, und an einigen Stellen rostet er. Er hat schon ungefähr 150000 Kilometer runter. Ab und zu, etwa ein- bis zweimal im Monat, spielt der Anlasser verrückt. Ich kann den Schlüssel noch so oft im Schloss umdrehen, der Motor springt nicht an. Aber ich würde ihn deshalb nicht extra in die Werkstatt bringen. Wenn man ihn etwa zehn Minuten tröstet und besänftigt, startet der Motor mit einem angenehm satten Brumm. Ist eben so, denk ich mir. Jeder Mensch und jedes Ding hat ein- bis zweimal im Monat einen schlechten Tag. So ist das nun mal im Leben. Mein Mann sagt zu meinem Auto »dein Esel«. Aber er mag es nennen, wie er will, es ist mein Auto.
Ich fahre mit meinem City zum Supermarkt einkaufen. Nach dem Einkauf putze ich und wasche die Wäsche. Dann bereite ich das Mittagessen vor. Ich bemühe mich, morgens alles möglichst rasch und effizient zu erledigen. Wenn es geht, bereite ich auch schon das Abendessen vor. Dann habe ich den ganzen Nachmittag für mich.
Kurz nach zwölf kommt mein Mann zum Essen nach Hause. Er isst nicht gern auswärts. »Es ist voll, das Essen schlecht und hinterher hat man den ganzen Tabakgeruch in den Kleidern«, sagt er. Trotz der Fahrerei isst er lieber zu Hause. Wie dem auch sei, ich koche mittags nichts Aufwendiges. Wenn es noch Essen vom Vortag gibt, mache ich es in der Mikrowelle warm. Gibt es keins mehr, essen wir einfach Soba. Das Essenkochen selbst kostet mich also nicht viel Mühe. Und natürlich ist es viel schöner, mit meinem Mann zusammen zu essen, als alleine schweigend dazusitzen.
Früher, als er die Praxis gerade erst eröffnet hatte, kam es öfters vor, dass der erste Nachmittagstermin frei blieb. Dann gingen wir nach dem
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