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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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dabei flott vonstatten. Die ewig gleichen Körperbewegungen – bloße Disposition. Sie verzehren mich, so wie der Absatz eines Schuhs einseitig abgetragen wird. Der tägliche Schlaf, notwendig, um sie zu regulieren und abzukühlen.
    Verhält es sich so?
    Ich las den Absatz noch einmal mit höchster Konzentration. Ich nickte. Ja, wahrscheinlich ist es so.
    Aber was ist dann mein Leben? Ich werde von Dispositionen aufgezehrt und schlafe als Therapie. Besteht mein Leben in nichts anderem als der Wiederholung dieses Ablaufs? Führt es nirgendwo hin?
    Ich saß am Tisch in der Bibliothek und schüttelte den Kopf.
    Ich brauche keinen Schlaf, dachte ich. Und wenn ich dabei verrückt werde. Und wenn ich ohne Schlaf meine »lebensnotwendige Existenzgrundlage« verliere. Das macht mir nichts. Ich will jedenfalls nicht von meiner Disposition aufgezehrt werden. Und wenn Schlaf nur die periodische Wiederkehr ist, um mich von der Aufzehrung durch meine Disposition zu heilen, dann will ich ihn nicht. Ich brauche ihn nicht mehr. Mein Körper mag von Dispositionen aufgezehrt werden, doch mein Geist gehört mir. Ich behalte ihn fest für mich. Ich gebe ihn nicht her. Ich will nicht therapiert werden. Ich schlafe nicht.
    Mit diesem Entschluss verließ ich die Bibliothek.
    5
    Ich hatte keine Angst mehr davor, nicht schlafen zu können. Es gab nichts zu befürchten. Nach vorne denken! Ich erweitere mein Leben , dachte ich. Die Zeit zwischen zehn Uhr abends und sechs Uhr früh gehörte mir. Bis jetzt war ein Drittel des Tages vom Schlaf – oder der »Therapie zur Abkühlung«, wie es hieß – beansprucht worden. Jetzt gehört diese Zeit mir. Niemand anderem, nur mir. Ich kann über diese Zeit so, wie ich will, verfügen. Niemand stört mich, niemand verlangt etwas von mir. Ja, ich habe mein Leben erweitert. Ich habe mein Leben um ein Drittel erweitert.
    Das ist biologisch anomal, mag man mir entgegenhalten. Mag sein. Und vielleicht werde ich später diese Schuld, die ich mit der Fortsetzung dieser Anomalie anhäufe, begleichen müssen. Vielleicht wird das Leben diesen erweiterten Teil – den ich mir jetzt im Voraus nehme – später zurückfordern. Eine unbegründete Annahme, doch gibt es auch keinen Grund, sie zu negieren, und zunächst scheint sie mir vernünftig. Zuletzt also wird sich das Soll und Haben der Zeit ausgleichen.
    Aber ehrlich gesagt, ist mir das schon egal. Auch wenn ich nach irgendeiner Rechnung früher sterben müsste, ist mir das vollkommen gleich. Sollen die Hypothesen doch ihren Lauf nehmen. Ich jedenfalls erweitere jetzt mein Leben. Und das ist großartig. Darin besteht das wirkliche Gefühl. Ich spüre real, dass ich lebe. Ich werde nicht mehr aufgezehrt. Oder zumindest existiert hier ein Teil von mir, der nicht aufgezehrt wird. Und genau das verschafft mir dieses sinnliche Gefühl zu leben. Ein Leben ohne dieses sinnliche Gefühl mag ewig dauern, doch es ist ohne Bedeutung. Das weiß ich jetzt.
    Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass mein Mann eingeschlafen war, setzte ich mich im Wohnzimmer aufs Sofa, trank einen Cognac und öffnete mein Buch. In der ersten Woche las ich »Anna Karenina« dreimal. Mit jedem Lesen machte ich neue Entdeckungen. Dieser ungeheuer lange Roman war voller Enthüllungen und Rätsel. Wie in einer kunstvollen Schachtel enthielt seine Welt kleinere Welten, und diese kleineren Welten enthielten wiederum noch kleinere Welten. Und diese Welten bildeten zusammen ein Universum, und dieses Universum lag da und wartete darauf, vom Leser entdeckt zu werden. Mein früheres Ich hatte nur ein klitzekleines Bruchstück davon zu erfassen vermocht, mein jetziges Ich aber durchschaute und verstand es. Ich verstand genau, was der Schriftsteller Tolstoi sagen wollte, was er dem Leser zu verstehen geben wollte, wie seine Botschaft sich organisch als Roman kristallisiert hatte und was in diesem Roman am Schluss den Schriftsteller selbst übertroffen hatte. Ich konnte alles genau durchschauen.
    Wie sehr ich mich auch konzentrierte, ich wurde nicht müde. Nachdem ich »Anna Karenina«, sooft ich konnte, gelesen hatte, nahm ich mir Dostojewski vor. Ich konnte so viele Bücher lesen, wie ich wollte, mich noch so sehr konzentrieren, ich wurde nicht müde. Auch die unverständlichsten Passagen waren mir ohne jede Mühe eingängig. Ich war sehr berührt.
    Ich spürte, dies war die Person, die ich eigentlich sein sollte. Durch den Verzicht auf Schlaf hatte ich mich selbst erweitert. Das Wichtigste ist die

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