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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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wird er meine Gefühle gewiss nie verstehen können. So wie mein Mann heute kaum in der Lage ist, sie zu verstehen.
    Ohne Zweifel liebe ich meinen Sohn. Aber ich ahnte, dass ich ihn in Zukunft nicht mehr so aufrichtig würde lieben können. Ein nicht gerade mütterlicher Gedanke. Andere Mütter denken so etwas bestimmt nie. Aber ich weiß: Eines Tages werde ich dieses Kind plötzlich verachten. Dieser Gedanke ging mir durch den Kopf, als ich das Gesicht meines schlafenden Kindes betrachtete.
    Er stimmte mich furchtbar traurig. Ich schloss die Tür zum Kinderzimmer und löschte das Licht im Flur. Dann setzte ich mich aufs Sofa im Wohnzimmer und schlug mein Buch auf. Nach einigen Seiten klappte ich es wieder zu. Ich sah auf die Uhr. Es war kurz vor drei.
    Ich überlegte, der wievielte Tag ohne Schlaf dies war. Am Dienstag vorletzter Woche hatte ich das erste Mal nicht geschlafen. Dann war also heute der siebzehnte Tag. Siebzehn Tage lang habe ich nicht ein einziges Mal geschlafen. Siebzehn Tage und siebzehn Nächte. Eine sehr sehr lange Zeit. Ich erinnerte mich bereits nicht mehr daran, was Schlaf war.
    Ich schloss die Augen und versuchte, mir das Gefühl von Schlaf ins Gedächtnis zu rufen. Aber ich fand nur eine wache Dunkelheit vor. Wache Dunkelheit – ich dachte an den Tod.
    Muss ich sterben?, fragte ich mich.
    Wenn ich jetzt sterbe, was wäre dann mein Leben gewesen?
    Natürlich wusste ich darauf keine Antwort.
    Also gut, was ist dann der Tod?
    Bis dahin hatte ich mir den Schlaf als eine Art Vorform des Todes gedacht. Auf der Verlängerungslinie des Schlafes steht der Tod, hatte ich mir vorgestellt. Der Tod als ein bewusstloser Schlaf, viel tiefer jedoch als der normale Schlaf – ein ewiges Ausruhen, ein Blackout.
    Aber vielleicht ist das falsch, dachte ich plötzlich. Ist der Tod nicht völlig anders beschaffen als der Schlaf – eine endlos tiefe wache Dunkelheit vielleicht, wie ich sie jetzt vor mir sehe. Vielleicht ist der Tod ein ewiges Wachsein in der Finsternis.
    Nein, das ist zu grausam. Wenn der Tod kein Ausruhen ist, welche Erlösung bleibt uns dann in unserem unvollkommenen Leben voller Entbehrungen? Doch schließlich weiß niemand, was der Tod ist. Wer hat den Tod denn wirklich gesehen? Niemand. Die den Tod gesehen haben, sind tot. Von den Lebenden weiß niemand, was der Tod ist. Es sind alles bloß Vermutungen. Welche Vermutung es auch sein mag, sie bleibt Vermutung. Dass der Tod ein Ausruhen sein soll, ist unlogisch. Dazu muss man sterben. Der Tod kann alles Mögliche sein .
    Bei diesem Gedanken überkam mich plötzlich eine schreckliche Furcht. Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken und ließ mich erstarren. Ich hatte die Augen noch immer geschlossen. Ich war unfähig, sie zu öffnen. Ich starrte in die dichte Dunkelheit vor meinen Augen. Sie war so weit wie das Universum, und es gab keine Erlösung. Ich war ganz allein. Mein Geist konzentrierte sich und wurde weit. Ich hatte das Gefühl, als könne ich bis in die Tiefe des Universums blicken, wenn ich wollte. Doch ich tat es nicht. Noch zu früh, dachte ich.
    Wenn das der Tod war, was sollte ich dann machen? Wenn sterben hieße, ewig wach zu sein und in die Dunkelheit zu starren?
    Endlich gelang es mir, meine Augen zu öffnen. Ich nahm das Glas mit dem restlichen Cognac und trank es in einem Zug aus.
    6
    Ich streife mein Nachthemd ab und ziehe eine Jeans, ein T-Shirt und darüber eine Windjacke an. Ich binde mir die Haare hinten fest zusammen, stecke sie unter die Jacke und setze die Baseball-Mütze meines Mannes auf. Im Spiegel sehe ich aus wie ein Junge. Gut. Dann ziehe ich meine Turnschuhe an und gehe runter zur Tiefgarage.
    Ich steige in den City, drehe den Zündschlüssel um und lasse den Motor einen Moment laufen. Ich lausche dem Geräusch des Motors. Es ist das gleiche Geräusch wie immer. Ich lege beide Hände aufs Lenkrad und atme ein paar Mal tief ein und aus. Ich schalte in den ersten Gang und fahre aus dem Gebäude. Das Auto fährt leichter als sonst. Als ob es über Eis gleitet. Ich schalte vorsichtig in einen höheren Gang, verlasse die Stadt und fahre auf die Hauptstraße in Richtung Yokohama.
    Obwohl es schon nach drei ist, sind nicht wenige Autos unterwegs. Riesige Langstreckenlaster fahren von West nach Ost und lassen die Straßendecke erbeben. Die Lastwagenfahrer schlafen nicht. Um effizienter zu sein, schlafen sie am Tag und arbeiten nachts.
    Ich könnte Tag und Nacht arbeiten, denke ich. Ich brauche nicht zu

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