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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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schöne Elastizität bewahrt.
    Mir wurde bewusst, dass ich schöner war, als ich gedacht hatte. Ich sah viel jünger aus. Ich könnte für vierundzwanzig durchgehen. Meine Haut war weich, meine Augen glänzten. Meine Lippen waren jung und frisch und auch die Schatten unter meinen vorstehenden Backenknochen (den Teil an mir, den ich am wenigsten mochte) waren nicht mehr auszumachen. Ich setzte mich vor den Spiegel und starrte dreißig Minuten lang in mein Gesicht. Ich sah es von allen Winkeln aus an, ganz objektiv. Ich irrte mich nicht. Ich war wirklich hübsch geworden.
    Was geschah nur mit mir?
    Ich erwog, zum Arzt zu gehen. Ich hatte einen Arzt, der mich schon als Kind behandelt hatte und mir sehr vertraut war. Doch als ich mir vorstellte, wie er auf meine Geschichte reagieren würde, wurde mir schwer ums Herz. Würde er mir überhaupt Glauben schenken? Wenn ich ihm erzählte, dass ich schon seit einer Woche nicht geschlafen hatte, würde er wahrscheinlich erst einmal an meinem Verstand zweifeln. Oder er würde es einfach als Schlaflosigkeitsneurose abtun. Falls er aber meiner Geschichte wirklich glaubte, würde er mich bestimmt zur Untersuchung in irgendeine große Klinik einweisen.
    Und was passierte dann?
    Ich würde dort eingeschlossen, überall herumgeschickt und allen möglichen Experimenten ausgesetzt werden. Man würde EEG s und EKG s, Urinanalysen und Blutuntersuchungen und psychologische Tests und was sonst noch machen.
    Das könnte ich nicht ertragen. Ich wollte allein in aller Ruhe meine Bücher lesen. Und einmal am Tag genau eine Stunde schwimmen. Und vor allem wollte ich frei sein. Das war es, was ich mir wünschte. Ich wollte in kein Krankenhaus.
    Und selbst wenn ich in ein Krankenhaus käme, was könnte man denn überhaupt herausfinden? Man würde nur Berge von Untersuchungen machen und einen Haufen Hypothesen aufstellen. Ich wollte nicht dort eingesperrt werden.
    Eines Nachmittags ging ich in die Bibliothek und las ein paar Bücher über Schlaf. Sehr viel gab es nicht zu diesem Thema, und die wenigen Bücher, die ich fand, waren nicht besonders interessant. Letztlich sagten sie alle nur das eine: Schlafen ist Ausruhen. Es ist das Gleiche, wie den Motor eines Autos abzustellen. Lässt man einen Motor ständig ohne Unterbrechung laufen, so geht er über kurz oder lang kaputt. Ein laufender Motor produziert unausweichlich Hitze, die angestaute Hitze wiederum hat die Erschöpfung der Maschine zur Folge. Daher muss man sie zwecks Wärmeabstrahlung ausruhen lassen. Sie abkühlen lassen. Den Motor abstellen – das ist also der Schlaf. Bei Menschen bedeutet das, Körper und Geist ausruhen zu lassen. Wenn ein Mensch sich hinlegt und seine Muskeln entspannt, schließt er zugleich seine Augen und unterbricht seine Denktätigkeit. Die überschüssigen Gedanken aber finden in der Form des Traumes ihre ganz natürliche elektrische Entladung.
    In einem der Bücher stieß ich auf etwas Interessantes. Der Autor behauptete, dass der Mensch sowohl in seiner Denktätigkeit als auch in seinen körperlichen Bewegungen einer bestimmten individuellen Disposition nicht entkommen könne. Unbewusst bilde der Mensch seine eigene Handlungs- und Denkdisposition aus, und außer in Ausnahmefällen verschwände diese einmal ausgebildete Disposition nie wieder. Der Mensch lebe also eingesperrt im Käfig seiner Disposition. Und gerade der Schlaf sei es, welcher der Einseitigkeit einer solchen Disposition – dem einseitigen Ablaufen eines Schuhabsatzes vergleichbar, wie der Autor schrieb – entgegenwirke. Der Schlaf reguliere und therapiere also eine solche Einseitigkeit. Im Schlaf entspanne der Mensch die einseitig benutzten Muskeln ganz natürlich, und er beruhige oder entlade die einseitig benutzten Denkstromkreise. Auf diese Art und Weise werde der Mensch abgekühlt. Dabei handle es sich um ein schicksalhaft ins System Mensch einprogrammiertes Verhalten, und niemand vermöge sich daraus zu lösen. Löse man sich daraus, so der Autor, verliere die Existenz als solche ihre Existenzgrundlage.
    »Disposition?«, fragte ich mich.
    Das Einzige, was mir bei dem Wort »Disposition« einfiel, war meine Hausarbeit, diese verschiedenen Arbeiten, die ich tagtäglich gefühllos und mechanisch ausführte. Kochen und einkaufen und waschen und Mutter sein, alles ohne Zweifel nichts als Disposition. Ich konnte sie sogar mit geschlossenen Augen verrichten. Denn es ist bloße Disposition. Knöpfe drücken und Hebel ziehen. Die Realität geht

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