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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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welches eigentlich mein wahres Ich ist. Es geht so weit, dass ich mich frage, ob nicht die Dinge um mich herum vielleicht nur meine Erinnerungen sind. Hast du so etwas schon mal erlebt?«
    Ich schüttelte abwesend den Kopf.
    »An dich erinnere ich mich auch genau. Als ich die Straße entlangging und einen Blick durch das Fenster warf, erkannte ich dich sofort. Stört es dich, dass ich dich angesprochen habe?«
    »Nein«, sagte ich, »aber ich kann mich nicht an dich erinnern. Es tut mir furchtbar leid.«
    »Gar nicht. Ich habe mich ja einfach rücksichtslos aufgedrängt. Mach dir darüber keine Gedanken. Wenn die Zeit kommt, wirst du dich ganz von selbst erinnern. So ist das eben. Bei jedem Menschen funktioniert das Gedächtnis anders. Sowohl Kapazität als auch Ausrichtung sind verschieden. Manchmal helfen die Erinnerungen den Funktionen des Gehirns, manchmal behindern sie sie. Dabei sind die einen nicht gut und die anderen nicht schlecht. Mach dir bitte keine Gedanken. Es ist völlig unwichtig.«
    »Willst du mir nicht deinen Namen sagen? Ich komme nicht drauf, das ist mir unangenehm«, sagte ich.
    »Mein Name ist doch völlig gleichgültig, wirklich«, sagte er. »Fällt er dir ein, gut, fällt er dir nicht ein, auch gut. Das ist egal. Es macht keinen Unterschied. Aber wenn es dir so viel ausmacht, dass du dich nicht an meinen Namen erinnerst, tu einfach so, als seist du mir zum ersten Mal begegnet. Dann stört uns nichts bei unserer Unterhaltung.«
    Der Kaffee wurde gebracht, und er schlürfte ihn, als schmecke er nicht besonders. Die wahre Bedeutung seiner Worte war mir unverständlich.
    »Es ist schon viel Wasser unter der Brücke geflossen – erinnerst du dich an den Satz? Er stand im Englischbuch aus der Oberschule«, sagte er.
    Oberschule? Hieß das, dass wir uns von der Oberschule her kannten?
    »Es stimmt wirklich. Vor kurzem stand ich auf einer Brücke und sah geistesabwesend nach unten. Da kam mir auf einmal dieser englische Satz in den Sinn. Ich konnte ihn richtig nachempfinden. Ja, dachte ich, die Zeit ist wie dieser Bach hier dahingeflossen.«
    Er verschränkte die Arme und sank mit einem vagen Gesichtsausdruck in den Stuhl zurück. Wenn dieser Ausdruck ein bestimmtes Gefühl vermitteln sollte, so war mir nicht klar, welches. Seine für Ausdruck zuständigen Gene schienen hier und da etwas abgetragen zu sein.
    »Bist du verheiratet?«, fragte er.
    Ich nickte.
    »Kinder?«
    »Nein.«
    »Ich habe einen Jungen«, sagte er. »Er ist schon vier. Er geht in den Kindergarten. Das Schöne an ihm ist seine Lebhaftigkeit.«
    Damit war das Gespräch über Kinder beendet, und wir schwiegen. Als ich mir eine Zigarette in den Mund steckte, gab er mir sofort Feuer. Es war eine sehr natürliche Geste. Normalerweise mag ich es nicht besonders, wenn man mir Feuer gibt oder einschenkt, aber bei ihm störte es mich fast gar nicht. Einen Augenblick lang war mir gar nicht bewusst, dass er mir Feuer gegeben hatte.
    »Was arbeitest du eigentlich?«
    »Ein kleines Geschäft«, antwortete ich.
    »Ein Geschäft?«, fragte er nach kurzer Pause verblüfft.
    »Ja. Nichts Besonderes«, murmelte ich. Er nickte nur einige Male und wagte nicht, noch weitere Fragen zu stellen. Nicht dass ich nicht über meine Arbeit reden wollte. Aber wenn ich einmal anfinge, würde es lange dauern, und ich war zu müde, um alles zu erzählen. Außerdem kannte ich noch nicht einmal den Namen meines Gesprächspartners.
    »Dass du ein Geschäft hast, überrascht mich. Du schienst nicht gerade der geborene Geschäftsmann zu sein.«
    Ich lächelte.
    »Früher hast du bloß Bücher gelesen«, fuhr er verwundert fort.
    »Nun, Bücher lese ich auch heute noch«, sagte ich mit einem gequälten Lächeln.
    »Enzyklopädien?«
    »Enzyklopädien?«
    »Ja, hast du eine Enzyklopädie?«
    »Nein.« Ich schüttelte verständnislos den Kopf.
    »Liest du keine Enzyklopädien?«
    »Nun, wenn ich eine hätte, würde ich sie vielleicht lesen«, sagte ich. Aber momentan war in unserer Wohnung kein Platz für so was.
    »Ich gehe nämlich von Haus zu Haus und verkaufe Enzyklopädien«, sagte er.
    Die halbe Neugier, die ich bis zu diesem Moment für ihn empfunden hatte, erlosch augenblicklich. Er verkaufte also Enzyklopädien. Ich trank einen Schluck kalten Kaffee und stellte die Tasse lautlos auf ihren Untersatz zurück.
    »Ich hätte schon gerne eine. Es wäre sicher gut, eine zu besitzen. Aber zur Zeit habe ich leider kein Geld. Wirklich gar keins. Ich musste Schulden

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