Der Elefant verschwindet
auf der Bank, zündete mir meine letzte Zigarette an und warf die leere Schachtel in den Abfallkorb. Die Uhr zeigte schon fast zwölf.
Erst neun Stunden später bemerkte ich den zweiten Fehler, den ich an diesem Abend gemacht hatte. Es war ein wirklich blöder und fataler Fehler. Zusammen mit der Zigarettenschachtel hatte ich das Streichholzbriefchen, auf dem ich ihre Telefonnummer notiert hatte, weggeschmissen. Ich stellte alle möglichen Nachforschungen an, doch ihre Telefonnummer stand weder im Namensregister unserer Arbeitsstelle noch im Telefonbuch. Auch im Sekretariat ihrer Universität konnte man mir nicht weiterhelfen. Ich habe sie nie wieder getroffen.
Sie war meine zweite Chinesin.
4
Die Geschichte vom dritten Chinesen.
Wie ich schon erwähnte, war mein dritter Chinese ein Bekannter aus der Oberschulzeit. Der Freund eines Freundes, könnte man sagen. Wir hatten uns ein paar Mal unterhalten.
Als ich ihn wiedertraf, war ich gerade achtundzwanzig geworden. Seit meiner Heirat waren sechs Jahre vergangen. In diesen sechs Jahren hatte ich drei Katzen zu Grabe getragen, einige Hoffnungen verbrannt und manches Leid, in dicke Pullover gehüllt, beerdigt. All das war in dieser riesigen Metropole, die keinen Halt bot, geschehen.
Es war ein kalter Nachmittag im Dezember. Kein Wind wehte, doch die Luft war kühl, und auch das Licht, das ab und zu zwischen den Wolken hervordrang, vermochte nicht, den düster grauen Schleier zu vertreiben, der über der Stadt hing. Ich war auf dem Rückweg von der Bank und ging in ein verglastes Café an der Aoyama-Straße, wo ich bei einer Tasse Kaffee in einem Roman blätterte, den ich gerade gekauft hatte. Wenn ich vom Lesen müde war, blickte ich auf und betrachtete die vorbeifahrenden Autos, dann las ich weiter.
Als ich wieder einmal aufsah, stand dieser Mann vor mir. Er sagte meinen Namen.
»Du bist es doch, oder?«
Erstaunt blickte ich zu ihm hoch und bejahte. Ich konnte mich nicht an sein Gesicht erinnern. Er war ungefähr genauso alt wie ich und trug einen gut geschnittenen, marineblauen Blazer und einen farblich dazu passenden, schräg gestreiften Schlips. Alles machte einen etwas abgetragenen Eindruck. Nicht dass seine Kleidung alt oder ausgebeult gewesen wäre. Sie war einfach bloß abgetragen. Mit seinen Gesichtszügen verhielt es sich ähnlich. Es schien, als sei der ordentliche Ausdruck auf seinem Gesicht nur eine Anhäufung von Bruchstücken, die je nach Situation von irgendwoher gewaltsam zusammengescharrt wurden. Wie behelfsmäßig zusammengesuchte, ungleiche Teller auf einer Partytafel.
»Kann ich mich setzen?«
»Bitte«, sagte ich. Als er sich mir gegenüber hingesetzt hatte, kramte er aus seiner Tasche eine Zigarettenschachtel und ein kleines goldenes Feuerzeug hervor und legte beides, ohne sich eine Zigarette anzuzünden, auf den Tisch.
»Und, erinnerst du dich nicht?«
»Nein«, gestand ich geradeheraus und verzichtete auf weiteres Überlegen. »Tut mir leid, aber es ist immer das Gleiche. Ich kann mir die Gesichter von Leuten nicht merken.«
»Vielleicht willst du ja die alten Geschichten vergessen. Unbewusst sozusagen.«
»Ja, vielleicht«, bestätigte ich. Vielleicht verhielt es sich wirklich so.
Als die Kellnerin Wasser brachte, bestellte er einen amerikanischen Kaffee. Möglichst dünn, sagte er.
»Ich habe einen schlechten Magen. Eigentlich sollte ich mit dem Kaffee und den Zigaretten aufhören«, meinte er, wobei er an der Zigarettenschachtel herumfingerte. Und dann machte er das typische Gesicht, das Leute mit schlechtem Magen machen, wenn sie über ihre Mägen sprechen. »Übrigens, um das Gespräch von eben fortzusetzen, aus dem gleichen Grund wie du erinnere ich mich an alles, ohne Ausnahme. Es ist wirklich seltsam. Vieles würde ich gerne endgültig vergessen. Doch je mehr ich vergessen will, desto mehr erinnere ich mich. Je mehr man einzuschlafen versucht, desto wacher wird man. Genauso ist es. Warum das so ist, verstehe ich nicht. Ich erinnere mich sogar an völlig belanglose Dinge. Mein Gedächtnis ist so präzise, dass ich Angst bekomme, dass neben all den alten Erinnerungen kein Platz mehr für die aus meinem künftigen Leben ist. Es ist wirklich schlimm.«
Ich legte das Buch, das ich noch immer in den Händen hielt, auf den Tisch und trank einen Schluck Kaffee.
»Alles tritt mir ganz deutlich vor Augen. Das Wetter, die Temperatur, die Gerüche. Als wenn ich in diesem Moment dort wäre. Manchmal weiß ich selbst nicht mehr,
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