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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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eine Bank und mich daneben. Sie legte ihre Tasche auf die Knie und hielt die Riemen mit beiden Händen fest, streckte ihre Beine aus und starrte auf die Spitzen ihrer weißen Schuhe.
    Ich entschuldigte mich bei ihr. Ich wüsste nicht warum, aber ich hätte mich geirrt, sagte ich. Sicherlich wäre ich zerstreut gewesen.
    »Hast du dich wirklich geirrt?«, fragte sie.
    »Natürlich. Sonst wäre das nicht passiert«, antwortete ich.
    »Ich dachte, du hättest es mit Absicht getan«, sagte sie.
    »Mit Absicht?«
    »Ich dachte, du wärst vielleicht verärgert.«
    »Verärgert?« Ich verstand nicht ganz, was sie sagen wollte.
    »Ja.«
    »Warum sollte ich verärgert sein?«
    »Ich weiß nicht«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Weil du dich vielleicht gelangweilt hast mit mir.«
    »Überhaupt nicht. Es war sehr schön mit dir. Das meine ich ernst.«
    »Das ist nicht wahr. Mit mir macht es keinen Spaß. Es kann gar keinen machen. Das weiß ich selbst am besten. Und selbst wenn du dich wirklich geirrt hast, dann deswegen, weil du es in Wirklichkeit in deinem Innern so wolltest.«
    Ich stieß einen Seufzer aus.
    »Mach dir nichts draus«, sagte sie. Sie schüttelte ihren Kopf. »Es ist ja nicht das erste Mal und auch bestimmt nicht das letzte.«
    Aus ihren Augen quollen zwei Tränen und fielen leise auf ihre vom Mantel bedeckten Knie.
    Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Wir saßen da und schwiegen. Mehrere Bahnen kamen und spuckten Fahrgäste aus. Wenn die Gestalten oben an der Treppe verschwunden waren, wurde es wieder still.
    »Bitte, lass mich.« Sie strich sich ihr von Tränen nasses Stirnhaar zur Seite und lächelte. »Zuerst dachte ich, es sei vielleicht ein Irrtum gewesen. Deswegen machte es mir nichts aus, und ich blieb einfach in der falschen Bahn sitzen. Aber ungefähr als ich am Bahnhof Tōkyō vorbeifuhr, konnte ich nicht mehr. Es kotzte mich an. Ich möchte so etwas nie wieder erleben.«
    Ich wollte etwas sagen, aber es kam kein Wort über meine Lippen. Der Nachtwind löste die Spätausgabe einer Zeitung in ihre einzelnen Seiten auf und wirbelte sie an die Bahnsteigkante.
    Sie strich sich ihr von Tränen nasses Stirnhaar zur Seite und lächelte kraftlos. »Lass nur. Ich gehöre sowieso nicht hierher. Dies ist kein Ort für mich.«
    Mir war nicht klar, ob sie mit »Ort« Japan meinte oder aber diese unaufhörlich um das dunkle Universum kreisende Gesteinsmasse. Ich schwieg, nahm ihre Hand, legte sie auf mein Knie und legte sanft die meine darauf. Ihre Hand war warm und innen feucht. Ich zwang mich, etwas zu sagen.
    »Weißt du, ich kann es dir nicht richtig erklären, wer dieser Mensch namens Ich ist. Ich verstehe manchmal auch nicht mehr, wer ich bin. Ich weiß nicht, was ich selbst denke oder was ich will. Und auch nicht, was für Kräfte ich besitze und wie ich sie anwenden soll. Wenn ich genau darüber nachdenke, bekomme ich manchmal richtig Angst. Und wenn ich Angst habe, denke ich nur noch an mich. In solchen Momenten werde ich furchtbar egoistisch. Obwohl ich es nicht will, verletze ich manchmal andere Menschen. Ich bin also wirklich kein famoser Mensch.«
    Dann wusste ich nicht mehr weiter. Abrupt brach meine Rede ab.
    Sie schwieg, als ob sie auf eine Fortsetzung wartete. Sie betrachtete noch immer ihre Schuhspitzen. In der Ferne hörte man die Sirene eines Krankenwagens. Ein Bahnhofsbeamter fegte mit einem Besen den Müll auf dem Bahnsteig zusammen. Er würdigte uns keines Blickes. Da es spät war, kamen nur noch selten Züge.
    »Es war sehr schön mit dir«, sagte ich. »Das meine ich ernst. Nicht nur das. Ich kann es schwer in Worte fassen, aber ich finde dich sehr aufrichtig . Warum, weiß ich nicht. Warum wohl? Wir waren die ganze Zeit zusammen, haben über alles Mögliche geredet, und irgendwann musste ich das plötzlich denken. Ich habe ständig darüber nachgedacht. Worin besteht eigentlich diese Aufrichtigkeit ?«
    Sie hob ihren Kopf und sah mich einen Moment lang an.
    »Ich habe dich nicht absichtlich in die falsche Bahn gesetzt«, sagte ich. »Wahrscheinlich war ich mit meinen Gedanken woanders.«
    Sie nickte.
    »Ich rufe dich morgen an«, sagte ich. »Lass uns wieder irgendwo hingehen und in Ruhe sprechen.«
    Sie wischte sich mit den Fingerspitzen die Tränenspuren fort und steckte ihre Hände zurück in die Manteltaschen. »Danke. Tut mir leid, das alles.«
    »Du brauchst dich für nichts zu entschuldigen. Es war doch mein Fehler.«
    Dann trennten wir uns an diesem Abend. Ich saß alleine

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