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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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Verband, sodass Charlotte einen neuen Streifen abreisen musste. Genau in dem Moment brüllte Rebecca aus ihrem Korb heraus.
    »Herrje, sie hat schon wieder Hunger!«
    »Soll ich sie noch eine Weile herumtragen?«
    »Danke, Barbara, ich stille sie lieber gleich.«
    »Tu das, Charlotte, mit Gottes Gnade tu das.«
    Die Witwe Yoder stand auf und schlurfte in ihren schweren Holzpantinen zu dem Eimer an der Haustür. Als sie das Brett hob, entwich ein fauliger Gestank. Die Brennesseln hatten sich inzwischen fast ganz aufgelöst und in eine dicke dunkelgrüne Suppe verwandelt. Sie rührte sie mit einem Stecken kräftig um. Noch ein paar Tage, dann würde die Jauche so weit sein, dass man mit ihr die Pflanzen in den neuen Beeten düngen konnte. Darauf freute sie sich. Auch darauf, dass ihr Ruben heute Abend vor dem Einschlafen wieder ein paar Zeilen aus der Bibel vorlesen würde. Er konnte es mit seinem einen Auge besser als sein älterer Bruder. Viel besser. Wie gut, dass Charlotte es ihm beigebracht hatte. Die Witwe hantierte länger als nötig an dem Eimer herum und sah dabei zu Charlotte hinüber, die in ihrem fast durchsichtigen hellen Kleid auf der Bank saß und Rebecca die Brust gab. Nein, so unnütz und lasterhaft, wie sie am Anfang vermutet hatte, war dieser Schmetterling aus der Alten Welt nicht. Aaron hätte vor einer wie ihr vielleicht sogar gekuscht. Wer weiß. Inzwischen traute sie Charlotte sogar zu, dass sie den nächsten Winter überstand. Auch außerhalb des Steinhauses und ohne ihre Hilfe. Außerdem tat Charlotte genau wie sie selbst, und bei diesem Gedanken wanderte Barbara Yoders Blick auf den dunklen Lockenkopf des kleinen Mädchens, das Beste für ihr Kind. Auch das hatte sie von so einer liederlichen Frau nicht erwartet. Dann war es letztlich auch egal, wer der Vater war. Samuel oder ein anderer.
    Eine Weile später kam Rebecca Lapp vorbei. Sie war auf der Durchreise zu ihrer Schwester in der amischen Siedlung im Conestoga Valley, wollte auf dem Yoder-Hof übernachten und brachte zwei Nichten und ein Fässchen frisch eingekochten Ahornsirup mit. Zu sechst verteilten sie sich um die Decke, nähten mit neuem Eifer und streiften einander von Zeit zu Zeit mit wohlwollenden Blicken. So nahm die Decke auch noch die Geschichten der Frau auf, die mit der »Charming Nancy« gekommen war und deren Gesicht von Jahr zu Jahr mehr den gegerbten Gesichtern der Frauen vom Volk der wilden Leute glich. Rebeccas Stimme krächzte, wenn sie von Nannaantum vom Stamm der Susquehanna erzählte, die ihr beigebracht hatte, Mais zu stampfen und einzukochen, um zu überleben. So vieles hatte sie von ihr gelernt. Auch wie man Erdlöcher grub, in die man sich verkriechen und ausharren konnte, wenn Gefahr drohte. Weinte Rebecca Lapp? Nein, sie sang durch die Zähne ein monotones Lied.
    Charlotte spürte, wie der Stoff sich hautwarm und fleischig anfühlte, als würde die Decke bald lebendig. Sie zögerte den Abend so lange hinaus, bis das Licht sämig und der Boden feucht war. Als die Frauen dann schließlich doch ihre Nadeln in die Kissen zurücksteckten, die restlichen Fäden aufrollten und die Decke zusammenlegten, strichen schon die Fledermäuse tief über ihre Köpfe und begannen ihren Beuteflug. In der Nacht schlich Charlotte die Stiege vom Dachboden in die pechschwarz schwimmende Stille hinunter, tastete sich bis zu dem Kasten durch, in dem die Decke lag. Jedes Geräusch dröhnte. Umso schneller riss sie mit den Zähnen eine der Nähte an der Rückseite auf. Gerade so tief, dass sie zwei Finger hineinbohren konnte. Sie biss sich auf die Lippen, löste den blutverkrusteten Stofflappen und schob ihn tief in den Zwischenraum, wo das Wollfutter steckte. So würde auch etwas von ihr für immer in dieser Decke bleiben. Sie merkte sich die Stelle: zwei Handbreit vom Rand, viereinhalb von der rechten Ecke unten. Morgen früh, wenn es niemand sah, würde sie sie ganz schnell zunähen.
    Nachdem Samuel drei Tage und zwei Nächte fort war, tauchte die Silhouette eines reitenden Mannes auf dem Rücken des nächsten Hügels auf. Charlotte goss gerade die frisch gesprossenen Bohnen, deren Blätter schlaff am Fuß der Stangen lagen. Die Sonne war weiß wie ein ausgeblichener Knochen, und sie schützte ihre Augen mit einer Hand. Es musste Samuel sein, nur er hatte so breite Schultern. Aber warum war er so bald schon zurück? So schnell fand man doch kein neues Land. Seltsam. Charlotte spürte, wie sich Steine in ihrer Magengrube anhäuften.

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